In den seligen 1970er Jahren kugelte ich als frecher Wildfang durch Weimars Norden. Wir lebten am Waldrand und wurden durch das Röhren würdiger Hirsche geweckt. Der Hirschfänger lag naturgemäß griffbereit am Bett. Als versierter Leser von Liselotte Welskopf-Henrich[1] wusste ich, welche Gefahren von wilden Tieren und tollwütigen Bleichgesichtern jederzeit zu erwarten sein konnten. Ich war selbstverständlich im Indianer-Team von Tokei-ihto, der den Mord an seinem Vater durch den schießwütigen weißen Schurken Red Fox rächen musste.
Neben der Kinder- und Jugendbibliothek war der Fußballplatz der wichtigste Ort in meinem Leben. Mein Vater Achim spielte bei den alten Herren der BSG Motor Weimar. Ich kickte anfangs ebenfalls bei Motor, bevor mich der Wind zu wunderbaren Mannschaften wie Traktor Kromsdorf und Empor Weimar wehte. Dank des Europapokalsieges [2]des 1. FC Magdeburg im Jahr 1974 und der WM-Teilnahme der DDR in der BRD mit passendem 1:0-Sieg[3] in Hamburg bekam der DDR-Fußball einen heftigen Schub: Jeder kleine Junge spielte das Sparwassertor nach und wollte später ein Sparwasser werden, mindestens ein Lothar Kurbjuweit, so hieß unser bester lokaler Weltmeisterschafts-Bolzer aus Jena. Auch in der DDR trugen die Fußballer ihr Haar damals drei Zentimeter länger als der Durchschnitt, was sie in unseren elfjährigen Augen in verruchte Halbgötter verwandelte.
Mein Vater nahm mich regelmäßig mit zu den Spielen seines geliebten FC Carl Zeiss Jena, ich genoss frühzeitig die Live-Spiele und beschäftigte mich die halbe Woche mit der DDR-Oberliga und würfelte die Spieltage aus. Der DDR-Meister kam immer aus Jena, das bereits beim ersten Spielbesuch (ein 2:1-Sieg in Vieselbach) meine Lebensmannschaft wurde.
Oft und gern besuchte ich die Spiele meines Vaters. Achim war linker Läufer und beackerte seine Seite vorbildlich. An der Hand meiner Mutter zitterte ich, wenn es mal wieder einer dieser Vierschröter aus dem Thüringer Wald wagte, Vaters graziles Ballett an der Außenbahn mit einem brutalen Foul zu unterbinden. In meinen Träumen sah ich Vater über den Sportplatz kugeln. Sein Haar hatte drei Zentimeter Überlänge, er trug ein buntes Stirnband. Vater tänzelte, die Dampframme schnaubte und es kam zum unvermeidlichen Showdown. Der edle Indianer wurde vom schrundigen Redneck gefällt.
Mutter und ich eilten zum verletzten Vater, der sich in meinen Träumen in seinem Blute wälzte. Wir brachten ihn in stabile Seitenlage und Mutter tupfte mit einem seidigen Schal den Schweiß von seiner Stirn, während ich den Griff meines Hirschfängers umfasste und meinen feurigen Hengst sattelte. Wir ritten zum verruchten Salon des Bösewichts, der Vater auf dem Gewissen hatte. Ich jagte ihm meinen Rachedolch in die Rippen.
Vater wurde im Filmtraum zum sanftmütigen Indianerpapa, indes der Bösewicht die Züge des Schauspielers Jiří Vršťala annahm, der im Film den Red Fox verkörperte, dessen eigentliche Lebensrolle aber die des bei allen Kindern beliebten Clown Ferdinand war. Welch grausames Schicksal, welch frühkindliche Tragödie!
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1180310.ballhaus-ost-clown-ferdinand-im-wilden-osten.html