In Polen wird das Europäische Parlament in 13 Wahlkreisen gewählt[1], fast jede Woiwodschaft hat also eigene Listen. Und die von den Parteien vorgegebenen Platzierungen haben insofern nur relative Bedeutung, weil die Wählerinnen und Wähler auf dem Wahlzettel das entscheidende Kreuzchen hinter nur einem Namen setzen müssen. Am Schluss ist also das landesweite Ergebnis der einzelnen Parteiliste wichtig – es gilt die Fünf-Prozent-Hürde – sowie die jeweilige Stimmenzahl hinter den einzelnen Namen. Anders gesagt: Um ins Europaparlament einzuziehen, braucht es neben dem guten Ergebnis der eigenen Liste die Durchsetzung gegen die anderen auf der eigenen Liste. Insofern wird dem Platz an der Spitze der jeweils 13 Listen einer Partei eine besondere Bedeutung zugeschrieben. Und als Faustformel gilt: In Polen braucht es, um einen Parlamentsplatz in Brüssel zu ergattern, gleich zwei Prozent der abgegebenen Stimmen, also den doppelten Anteil im Vergleich zu Deutschland.
Anfang Mai wurden die fertigen Wahllisten von allen Parteien vorgestellt, der erste Eindruck: Da wird nicht gekleckert, da wird geklotzt! Vier ehemalige Ministerpräsidentinnen beziehungsweise Ministerpräsidenten treten an: Beata Szydło für PiS, Ewa Kopacz für die Bürgerkoalition sowie Włodzimierz Cimoszewicz und Marek Belka für die Linken. Die Reihe ehemaliger oder aktueller Minister, ehemaliger oder derzeitiger Sejm-Mitglieder ist nicht eben kurz. Aus der aktuellen Regierungsmannschaft wollen gleich vier Minister nach Brüssel [2]wechseln, darunter die Chefs so wichtiger Ressorts wie Kultur oder Inneres. Schaut man durch die Reihen der Spitzenkandidaten in den 13 Wahlkreisen, so steht fest: Erfahrung geht überall vor Sturm und Drang. Auch die Linken treten mit aktuellem Spitzenpersonal aus einzelnen Ressorts vor die Wählerschaft, so mit Andrzej Szejna, dem stellvertretenden Außenminister.
Nun wird überall die besondere Bedeutung der Europa-Wahlen herausgestrichen, doch es bleibt dabei: Über den europapolitischen Kurs Polens haben die Parlamentswahlen im Herbst letzten Jahres entschieden. Der Sieg einer prononciert auf die EU-Integration ausgerichteten breiten Koalition von gemäßigt konservativ über liberal bis linksalternativ hat den Rahmen für Polens Europapolitik der nächsten Jahre festgesetzt[3]. Das auf eine eher lockere Europa-Union souveräner Vaterländer fixierte nationalkonservative Lager muss einen neuen Anlauf nehmen, woran sich wenig ändern wird, selbst wenn die Liste von Jarosław Kaczyński am Wahlabend wieder stärkste Gruppierung werden sollte. Und ein innenpolitisches Zeichen wurde gesetzt: Mariusz Kamiński und Maciej Wąsik sollen nach Brüssel. Anfang des Jahres mündete die Auseinandersetzung um ihre Begnadigung durch Staatspräsident Duda fast in einer handfesten Staatskrise.
Die linksalternative Partei Razem stellt mit Maciej Konieczny im Wahlkreis der Woiwodschaft Śląsk (Katowice) den Spitzenkandidaten für die Linken. Der Wahlkreis gilt als aussichtsreich, auch bei einem landesweiten Ergebnis im einstelligen Bereich. Nicht zu übersehen ist aber der innere Streit, denn Konieczny – bislang Sejm-Abgeordneter – könnte sich im Europaparlament einer Linksfraktion anschließen, und nicht, wie ansonsten bei Polens Linken üblich, den Sozialisten-Sozialdemokraten.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1182032.europawahl-polen-erfahrung-geht-vor-sturm-und-drang.html