Nach 100 Tagen endete der Hungerstreik von Klimaaktivist*innen der Initiative »Hungern bis ihr ehrlich seid«[1] – zum Glück ohne Todesopfer. Ihre Forderung, Bundeskanzler Scholz (SPD) möge in einer Regierungserklärung endlich »die Wahrheit« aussprechen, blieb unerfüllt. Übrig bleibt die Frage, welche Wahrheiten der Kanzler eigentlich zu verkünden hätte – und wie viel weiter er die Welt damit bringen würde.
Die Wahrheiten, die die Hungerstreikenden von Scholz hören wollten, waren klimawissenschaftliche. Sie handelten von CO2-Budgets und der Notwendigkeit, »radikal umzusteuern«. Doch das hat noch wenig darüber gesagt, wohin es klimapolitisch zu steuern gälte: Vertraut man auf Markt und Technikwunder oder auf eine sozial gerechte Grundversorgung? Diese vage Wahrheit auszusprechen, hätte jedenfalls noch niemanden zu bestimmten Konsequenzen verpflichtet.
Doch einem »ehrlichen« Kanzler blieben noch ganz andere Antwortmöglichkeiten. Eine Wahrheit, die er bei dieser Gelegenheit hätte mitteilen können, wäre die, dass Wahrheiten ihn im Grunde nicht besonders interessieren. Er ist Postideologe; seine Währung ist Macht. Wahrheiten, die weder beim Wahlvolk noch bei ökonomischen Eliten beliebt sind, sind in dieser Währung nicht der Rede wert.
In der Tat sind Klimawahrheiten unbeliebt. Denn die nächste wahre Antwort könnte lauten, dass der Sache nach angemessen radikaler Klimaschutz, also Nullemissionen innerhalb weniger Jahre, schlicht nicht mit funktionierender Kapitalverwertung vereinbar wäre, von der schließlich auch der Staat abhängig ist. Als Vertreter einer staatstragenden Partei könnte Scholz sich das schwerlich erlauben – und den politischen Gegenwind kaum überleben. Angedeutet wird diese Wahrheit aus dem Kanzleramt durchaus gerne, nicht zufällig verkürzt auf die Formel: »Das können wir uns nicht leisten!« Nicht in diesem System.
Zudem gibt es für »radikales Umsteuern« bis heute keine gesellschaftliche Mehrheit. Auch diese entlastende Wahrheit breitet Scholz regelmäßig aus. Bei der Europawahl mussten sowohl die Grünen, nominell Klimapartei, als auch die Linke mit einer Klimaaktivistin als Ko-Spitzenkandidatin verheerende Verluste hinnehmen. Noch ein paar gute Jahre auf der relativen Wohlstandsinsel zu genießen und dabei gründlich gegen die Verdammten dieser erhitzenden Erde aufzurüsten – das ist der mehrheitstaugliche Weg. Und der wird politisch bedient – in diesem vulgären Sinne ist die Demokratie in Klimafragen durchaus intakt. Dazu gibt es den berüchtigten »Klimaschutz, der alle mitnimmt«, also eine Mischung aus Symbolpolitik und technischen Scheinlösungen. Viel mehr nicht.
In diesem Sinne lässt der Kanzler längst mehr Wahres durchblicken, als selbst erhebliche Teile der Klimabewegung hören mögen. Das gibt Anlass zu umso größerer Verzweiflung. Warum also eine Autorität anrufen, die nur verzweifeln lassen kann? Hoffnung kann nur anderswo entstehen: in der gemeinsamen Organisierung – für konkreten Klimaschutz und einen solidarischen Umgang mit den nicht mehr abwendbaren Folgen der Klimakrise.
Genau diese Wahrheit kann und wird nicht aus dem Munde des Kanzlers kommen.