Mit welchen Emotionen haben Sie die Ergebnisse der Europawahlen erwartet?
Ich würde sagen, dass Ungläubigkeit die vorherrschende Gemütsverfassung war. Selbst als alle feierten, wartete ich auf die numerischen Ergebnisse. Als wir die eine Million Stimmen für das Bündnis Grüne und Linke (Alleanza Verdi e Sinistra-AVS) überschritten hatten, wusste ich, dass vier Prozent erreicht worden waren, aber ich konnte es trotzdem kaum glauben.
Konnten Sie nach der Nachricht von der Wahl schlafen?
Ja, ich schlief plötzlich ein, ein bisschen wie ein Kind. Aber nach ein paar Stunden war ich schon wieder wach, weil das Telefon natürlich früh zu klingeln begann. Als ich die Augen aufmachte, konnte ich nicht begreifen, was passiert war. Ich dachte, es sei nur ein schöner Traum gewesen.
Was für ein Signal ist die Wahl einer militanten Antifaschistin mit so viel Unterstützung und Zuspruch bei den Wählern?
Es ist ein sehr positives Zeichen, vor allem angesichts der Wahlerfolge der rechtsextremen Parteien[1] in vielen europäischen Ländern. Es ist ermutigend zu sehen, dass so viele Menschen, zumindest in Italien, die Geschichte unseres Landes nicht vergessen haben. Aber das stärkste Signal ist die Tatsache, dass viele Stimmen von jungen Menschen und Studenten kommen. Ich halte dies für eine sehr wichtige Tatsache, denn die politische Beteiligung junger Menschen[2] ist von grundlegender Bedeutung, insbesondere in der heutigen Welt, die sich in rasantem Tempo verändert. Vielleicht ist es nur den neuen Generationen zu verdanken, dass sich die Windrichtung in unserem Land ändern kann.
Ein rechtsextremer Wind weht über Europa. Jemand hat scherzhaft gesagt, dass das Europaparlament der am wenigsten sichere Ort ist, an den man Sie im Moment schicken kann. Wo sollten wir ansetzen, um ein solches Abdriften zu stoppen?
Die Rechten wollen nicht die Bedingungen[3] und Instrumente schaffen, die es den Menschen ermöglichen, ihre Unsicherheiten zu überwinden. Im Gegenteil, sie fördern die Dynamik des menschlichen, sozialen und politischen Rückschritts. Deshalb ist es wichtig, sich um die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen zu bemühen und Wege der Entwicklung aufzuzeigen. Darüber hinaus muss die Solidarität, eine mutige und kollektive Kraft, die die Welt wirklich verändern kann, das Leuchtfeuer sein, das uns hilft, auf Kurs zu bleiben. Schließlich müssen wir eine neue antifaschistische Populärkultur ins Leben rufen, die in der glorreichen Erinnerung an die Partisanen[4] wurzelt, aber auch und vor allem von der Gegenwart genährt wird. Eine lebendige Kultur, die aufrichtig empfunden wird und nah an den großen Themen von heute ist: soziale Ungleichheit, Diskriminierung, Krieg und Klimawandel.
Haben Sie erwartet, dass Sie die AVS zu einem Ergebnis führen können, das alle Erwartungen übertrifft?
Nein, das habe ich wirklich nicht erwartet, und ich war sogar besorgt, dass wir es nicht über die Sperrklausel von vier Prozent schaffen würden. Als ich sah, wie die Zahlen in die Höhe schossen, konnte ich es kaum glauben.
In den kommenden Wochen werden Sie Ihr Engagement in Europa beginnen. Was wird Ihre erste Handlung als Europaabgeordnete sein?
Es ist nicht wichtig, was ich als Erstes tun werde oder was ich als Nächstes tun werde, denn die Themen, auf die ich mich konzentrieren möchte, sind alle gleich wichtig und häufig miteinander verknüpft. Ich habe aus erster Hand erfahren, wie es ist, im Ausland inhaftiert zu sein[5]. Niemand kann solche Ungerechtigkeiten hinnehmen[6]. Als Parlamentarier kann ich den Geschichten und Bedürfnissen all dieser Menschen endlich eine Stimme geben. In Italien ist die Situation nicht nur in den Gefängnissen dramatisch, sondern auch die Bedingungen, denen die Migranten in den Abschiebezentren ausgesetzt sind. Ich werde auch gegen Diskriminierung, Ungleichheit, Ausbeutung, Patriarchat und Krieg kämpfen. Für eine radikale Veränderung der materiellen Lebensbedingungen der Menschen, für die Rechte der Arbeiter und der prekär Beschäftigten, für eine gute Schule, die niemanden zurücklässt, und für den Schutz der Umwelt.
Rund um Ihre Kandidatur haben selbstverwaltete linksradikale Sozialzentren, Bewegungen, Studenten und Menschen, die sich normalerweise von den Wahlurnen fernhalten, mobilisiert. Welche Art von Beziehungen wollen Sie zu diesen Gruppen aufbauen?
Ich habe immer Politik im Kontext von Bewegungen[7] und unter einfachen Menschen gemacht: Meine Absicht ist es, von dem auszugehen, was ich bin, und von meiner Geschichte. Ich glaube, dass die Erfahrungen, die ich in so vielen Jahren in den Bewegungen gemacht habe, und der Austausch, den ich weiterhin mit diesen Kreisen haben werde, den Weg für eine Vorstellung von Politik ebnen könnten, die näher am wirklichen Leben ist und all die Menschen einbezieht, die den gemeinsamen Willen teilen, für das Richtige zu kämpfen.
Der Text wurde »nd« zur Verfügung gestellt von der linken italienischen Tageszeitung »il manifesto«, mit der wir künftig enger kooperieren werden. Übersetzung: Cyrus Salimi-Asl.