Roma* oder als solche wahrgenommene Menschen in Berlin erlebten auch im vergangenen Jahr antiziganistische Angriffe, Beleidigungen und institutionelle Diskriminierung. Das zeigen die Zahlen antiziganistischer Vorfälle[1], die die Dokumentationsstelle Antiziganismus (Dosta), seit 2021 Teil der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (Mia), 2023 aufgenommen hat. Insgesamt waren das 210 Vorfälle, wovon die meisten mit 46 Meldungen in die Kategorie Kontakt zu Leistungsbehörden fallen, gefolgt von 38 im Bildungsbereich und 33 Vorfällen in der Öffentlichkeit.
»Im Bereich Kontakt zu Leistungsbehörden beobachten wir seit Jahren antiziganistische und in den meisten Fällen existenzbedrohende Praktiken«, schreibt Dosta im bundesweiten Bericht zu Antiziganismus[2] im Jahr 2023, der am Montag veröffentlicht wurde. Leistungsbehörden bezeichnet staatliche Stellen, die Sozialleistungen auszahlen. Vor allem im Kontakt mit dem Jobcenter müssten Roma* damit rechnen, dass sie vermehrt irrelevante Unterlagen einreichen müssen oder strenger überprüft werden, so das Fazit des Berichts.
»Anträge von EU-Bürger*innen aus Rumänien und Bulgarien werden oft pauschal abgelehnt«, sagt Violeta Balog von Dosta[3] zu »nd«. Sie nennt ein Beispiel der gemeldeten Vorfälle: Bei einer Person sei angezweifelt worden, ob sie wirklich arbeitet. Anschließend sei der Antrag auf Leistungen abgelehnt worden, weil die Beamten einen »Scheinarbeitsvertrag« vermuteten. Auch der Mietvertrag sei nicht anerkannt worden. Erst durch das Sozialgericht seien der Familie Leistungen zugesprochen worden. »Solche strukturellen Ausschlüsse können sich als existenzbedrohend auswirken, da es sich um Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts handelt«, sagt Balog.
Besonders Geflüchtete waren im vergangenen Jahr von Antiziganismus betroffen. Die Debatten um Abschiebungen in Berlin und der zunehmende Rechtsruck hätten dazu beigetragen, so Balog. Im Winter 2022/23 entbrannte ein Streit[4] in der damals noch rot-grün-roten Koalition, als Innensenatorin Iris Spranger (SPD) ankündigte, sie wolle noch während des vereinbarten Winterabschiebestopps massenhaft in die Republik Moldau abschieben. Viele Roma* fliehen vor struktureller Diskrimnierung aus Moldau nach Berlin.
Dosta beschreibt, dass durch das gesellschaftliche Klima Roma* oder als solche gelesene Menschen sowohl institutionellen Antiziganismus als auch Anfeindungen im öffentlichen Raum erlebt haben. »Davon waren insbesondere Geflüchtete aus der Republik Moldau betroffen.« Weil Menschen aus Moldau kaum eine Bleiberechtsperspektive gegeben werde, würden sie aus vielen Versorgungssystemen systematisch ausgeschlossen, Kinder würden zum Beispiel keinen Schulplatz erhalten, sagt Violeta Balog.
Außerdem sei seit dem Ende des Abschiebestopps im April 2023[5] »fast wöchentlich« von Berlin nach Moldau abgeschoben worden, wo viele Roma* »kein sicheres Leben führen können und wegen des strukturellen und institutionellen Ausschlusses aus der Gesellschaft in existenzbedrohender Armut leben«, so Dosta im Bericht.
»Betroffene berichten von teilweise täglichen antiziganistischen Beschimpfungen im Schulalltag.«
Dokumentationsstelle Antiziganismus
Die Dokumentationsstelle registriert im Bildungsbereich deutliche Benachteiligungen. In Schulen würden junge Roma* und als solche Wahrgenommene oft »Opfer von rassistischem Mobbing« – nicht nur durch Mitschüler*innen, sondern auch durch Lehrkräfte. »Betroffene berichten von teilweise täglichen antiziganistischen Beschimpfungen im Schulalltag.« Auch der Zugang zu Schulplätzen sei erheblich erschwert. Balog nennt ein Fallbeispiel: Eine Familie sei in einen Berliner Bezirk gezogen und habe einen Schulplatz für den Sohn gesucht. »Rumänische Kinder wollen eh keine Schule besuchen«, sei ihnen beim Schulamt gesagt worden. Die Schulanmeldung sei erst mit viel Verspätung »und viel Nachhaken« erfolgt, so Balog.
Dass sich die 210 bei Dosta im Jahr 2023 gemeldeten antiziganistischen Vorfälle auf einem zahlenmäßig ähnlich hohen Niveau wie im Jahr 2022 bewegen, in dem 225 Fälle gemeldet worden waren, deute »auf die anhaltende Akzeptanz antiziganistischer Beleidigungen und Schikanen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft« hin, schreibt Dosta im Bericht. »Die aktuelle politische Situation ist mehr als besorgniserregend, und aus diesem Grund ist es umso wichtiger, Betroffene von Antiziganismus und anderen Rassismus-Formen noch mehr zu stärken und zu unterstützen«, sagt Violeta Balog. Dazu müssten Antidiskriminierungsarbeit und Monitoringprojekte wie Dosta langfristig gesichert werden.
Bundesweit haben sich die bei der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus gemeldeten Vorfälle derweil verdoppelt – von 621 Fällen 2022 auf 1233 Fälle 2023. »Wir gehen nicht davon aus, dass die Ursache in einer entsprechenden Zunahme von Antiziganismus begründet liegt«, heißt es dazu. Stattdessen sei die Bekanntheit der 2021 gegründeten Melde- und Informationsstelle gewachsen, ihr am Montag veröffentlichter Jahresbericht ist erst der zweite seiner Art. In Berlin hingegen feiert Dosta im September zehnjähriges Bestehen, die Berliner Meldestruktur ist also bereits etablierter. Dennoch geht Dosta davon aus, dass die Dunkelziffer auch in Berlin höher liegt. Es brauche mehr Ressourcen, um Antiziganismus sichtbarer zu machen, sagt Violeta Balog.