nd-aktuell.de / 25.06.2024 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 1
Seeleute leben gefährlich
Wegen der Angriffe auf Schiffe wird der Arbeitsplatz an Bord noch unsicherer
Hermannus Pfeiffer
Ein Seemann befestigt ein Tauende an einer Seilwinde.
Foto: imago/blickwinkel/C.Kaiser
Der »Tag des Seefahrers«, den die UN-Seeschifffahrtsorganisation IMO seit 2010 jährlich am 25. Juni begeht, soll Aufmerksamkeit für die weltweit 1,2 Millionen Seeleute und ihre Arbeit erregen. Ging es in den vergangenen Jahren unter anderem um Geschlechtergleicheit oder Seereisen, lautet 2024 das Motto »Safety at Sea« (Sicherheit auf See).
Über die Meere werden 90 Prozent des internationalen Handels abgewickelt. Doch Matrosen und Kapitäne leben auf hoher See zunehmend gefährlich: Unfälle an Bord, Schiffsunglücke, Piratenangriffe und in jüngster Zeit Drohnenattacken bedrohen Leib und Leben. [1]Vorfälle im Roten Meer verdeutlichen die Gefahren und werfen zugleich ein Schlaglicht auf die Schattenseiten der Globalisierung. Im April beschlagnahmte die Marine der iranischen Revolutionsgarden die »MSC Aries«, ein unter der (Billig-)Flagge Madeiras fahrendes Containerschiff, in der Meerenge von Hormus und verhaftete seine Besatzung. [2]Die Aktion gilt als Vergeltungsmaßnahme nach dem mutmaßlich israelischen Luftangriff auf die iranische Botschaft in Syrien. Die 366 Meter lange »MSC Aries« wird von der in der Schweiz ansässigen Mediterranean Shipping Company (MSC) betrieben, die es vom Schifffahrtsunternehmen Zodiac Maritime mit Sitz in London geleast hat, das wiederum dem israelischen Milliardär Eyal Ofer gehört. Die 25 Besatzungsmitglieder stammen aus den Philippinen, Pakistan, Indien, Estland und Russland.
Dies war der jüngste einer Reihe von Vorfällen im Nahen Osten. In den vergangenen Monaten haben die jemenitischen Huthis Schiffe angegriffen, die in ihren Augen mit Israel und seinen Bündnispartnern in Verbindung stehen. Im März wurden bei einem dieser Angriffe drei Seeleute getötet. Zwei von ihnen waren philippinische Staatsangehörige, der dritte war Vietnamese.
Dass so viele verschiedene Staaten mit einem einzigen Schiff in Verbindung stehen, liegt daran, dass es den Schifffahrtsunternehmen und -betreibern nach den geltenden Vorschriften möglich ist, sich in unterschiedlichen Ländern zu registrieren und Besatzungen jeglicher Nationalität anzuheuern. »Natürlich wählen viele Unternehmen Staaten, in denen es nur wenige arbeits- und steuerrechtliche Vorschriften gibt und daher nur geringe Verantwortung für das Wohlergehen und die Sicherheit der Besatzungen an Bord der Schiffe besteht, die unter ihren Flaggen registriert sind«, beklagt die Internationale Transportarbeitergewerkschaft die Praxis der Billigflaggen, unter denen Schiffe registriert sind.
Vorfälle im Roten Meer verdeutlichen die Gefahren für Seeleute und werfen zugleich ein Schlaglicht auf die Schattenseiten der Globalisierung.
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Unternehmen stellten zudem vorrangig Besatzungsmitglieder aus Ländern ein, in denen gut bezahlte Arbeitsplätze rar sind, weshalb die Seeleute aus Angst, ihr Einkommen zu verlieren, als besonders willfährig gelten. Etwa 1500 bis 2000 Euro verdient ein Bootsmann – fünf Mal mehr als der Durchschnittslohn auf den Philippinen. Etwa eine halbe Million Filipinos arbeitet auf Ozeanschiffen, zu denen Frachtschiffe und Tanker, aber auch Passagier- und Kreuzfahrtschiffe mit ihrem besonders großem Personalbedarf zählen. Damit gehört das südostasiatische Land zu den führenden Entsendestaaten für Arbeitskräfte auf See.
Die Praxis der Billigflaggen begann während der 1920er Jahre in den Vereinigten Staaten. Als die US-Regierung die Einfuhr von Alkohol verbot, registrierten Schiffseigner ihre Pötte in Panama, um diese Restriktionen zu umgehen. Nach der Aufhebung der Prohibition wurde diese Praxis fortgesetzt, da Reedereien bald auch in Europa die Vorteile einer schwachen Regulierung erkannt hatten. Heute listet Paris MoU, eine internationale Dachorganisation der See-Berufsgenossenschaften, drei Dutzend Billigflaggen-Länder auf.
Von der deutschen Flotte werden diese nach Angaben des Reederverbandes DRV kaum genutzt. Die meisten Schiffe hiesiger Reedereien fahren unter einer europäischen oder außereuropäischen »Qualitätsflagge«. Daher meiden Schiffe von deutschen Eignern im Regelfall auch gefährliche Seegebiete und nehmen weite Umwege in Kauf. Es sind offenbar vor allem Billigflaggenschiffe, die etwa das Rote Meer durchfahren. Ihre Eigner profitieren doppelt: von der kürzeren Route und von den infolge solcher globalen Konflikte gestiegenen Frachtraten.
Anlaufstelle für Seeleute sind die Inspektor*innen der ITF, die auch von sich aus Schiffe kontrollieren. »Viele Seeleute haben mit Lohndiebstahl und Unterbezahlung zu kämpfen«, sagt eine Sprecherin des Dachverbandes, dem auch die deutsche Gewerkschaft Verdi angehört. Die Mindestheuer für Besatzungsmitglieder von Billigflaggenschiffen, für die Kollektivverträge gelten, beträgt rund 1700 US-Dollar im Monat. Seeleute auf Billigflaggenschiffen ohne Kollektivverträge arbeiten in manchen Fällen für 400 bis 600 Dollar pro Monat. Und selbst bei einer so niedrigen Bezahlung zahlen Unternehmen immer noch regelmäßig Heuern zu spät aus oder halten sie ganz zurück.
Ein philippinischer Seemann berichtete kürzlich: »Unser Unternehmen fährt immer noch durch das Rote Meer. Wir schlafen nicht gut, weil wir Angst um unser Leben haben.« Immerhin wurde die Besatzung der »MSC Aries« inzwischen freigelassen und die Seeleute konnten in ihre Heimatländer zurückkehren.
http://EU-weit dämonisieren Politik, Behörden und Medien sogenannte Schleuser als skrupellose, international operierende Kriminelle, die für ihren Profit auch Tote in Kauf nähmen. In Deutschland haben Landespolizeibehörden, die Bundespolizei sowie das Bundeskriminalamt eigens eingerichtete Ermittlungsgruppen, um die dem Bereich »Organisierte Kriminalität« zugeordneten Taten zu verfolgen. Die Maßnahmen gegen »Schleuser« werden regelmäßig auch mit dem Schutz Flüchtender begründet. »Ich will dieses grausame Geschäft mit der Not von Menschen stoppen«, erklärte die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) im Herbst. Erkenntnisse aus der Forschung zeichnen ein differenzierteres Bild: Bei vielen als »Schleusergruppen« verfolgten Zusammenschlüssen handelt es sich demnach um lose und zufällig gebildete Strukturen, die etwa aus entfernten Bekannten oder oftmals Flüchtenden selbst bestehen und auf Vertrauen und Weiterempfehlung basieren. Oft werden Menschen durch finanzielle Not oder Zwang zu »Schleusern«. So verdienen sich Migrierende, die Erfahrung an einer bestimmten Grenze gesammelt haben, etwas dazu, indem sie mit anderen ihr Wissen teilen, um damit dann ihre eigene Weiterreise zu finanzieren. Regelmäßig handelt es sich bei Personen, die Fahrer*innendienste übernehmen, um Menschen aus der lokalen Bevölkerung, die in Armut leben und deshalb diesen sehr risiko- und stressvollen Job annehmen. In Mittelmeerländern wie Griechenland und Italien werden Geflüchtete routinemäßig als »Schleuser« verhaftet, nur weil sie das Boot gesteuert oder Wasser an Bord verteilt haben. In Deutschland werden derartige Fälle unter anderem fast täglich vor dem Amtsgericht in Pirna verhandelt. Die Betroffenen werden dazu mit einem Gefangenentransporter aus der Untersuchungshaft in Dresden oder anderen Anstalten in der Umgebung gebracht und in Handschellen ins Gebäude geführt. In der zweiten Aprilwoche begann ein solcher Prozess wegen »Einschleusens von Ausländern« in Pirna gegen zwei Männer. An Händen und Füßen gefesselt werden sie in den Gerichtssaal geführt. Einer der beiden, ein 40 Jahre alter polnischer Staatsbürger, soll in zwei Fällen insgesamt 17 syrische Staatsangehörige ohne gültige Aufenthaltspapiere gegen Bezahlung mit dem Auto aus der Slowakei über Tschechien nach Deutschland gefahren haben. Vier Personen saßen auf der Rückbank, zwei im Kofferraum, deshalb wird ihm erschwerend die lebensgefährdende Behandlung vorgeworfen. Der Angeklagte äußert sich: Er sei arm und habe zwei Kinder, habe Geld für die medizinische Versorgung des autistischen Sohnes benötigt, das polnische Gesundheitssystem sei dafür nicht ausreichend. Die beförderten Menschen habe er gut behandelt, ihnen Wasser und Snacks gekauft. Darauf, wie viele im Auto saßen, habe er keinen Einfluss gehabt. Für beide Fahrten hat er 3000 Złoty, also umgerechnet weniger als 700 Euro erhalten, stellt das Gericht fest. Die Stigmatisierung von »Schleusern« als »skrupellose Verbrecher« dient dazu, die Unterstützung von Flüchtenden grundsätzlich zu diskreditieren. Für die Betroffenen ist die Flucht jedoch ungleich teurer. Auf dem Weg müssen sie oft zahlreiche solcher einzelnen Dienstleistungen in Anspruch nehmen, um Grenzen zu überwinden – wegen gewaltvoller Pushbacks häufig mehrmals für dieselbe Strecke. So können sich die Kosten einer Flucht schnell summieren; nach Angaben von Geflüchteten kostet etwa eine Flucht von Syrien bis nach Deutschland mehr als 10 000 Euro. Im Fall des 40-Jährigen aus Polen zeigt sich der Staatsanwalt empört. Weil für die vier Personen auf der Rückbank des Transporters keine Anschnallmöglichkeit vorhanden war, sei eine »lebensgefährdende Behandlung« der Geschleusten unbestreitbar, so Vertreter der Justiz. Im Gerichtssaal offenbart sich auf diese Weise die Doppelmoral europäischer Migrationspolitik: Während Politiker*innen das im Rahmen der kürzlich im EU-Parlament verabschiedeten Gemeinsamen Europäischen Asylreformreform geplante unmenschliche Festhalten von Asylsuchenden – auch Kindern – in Gefängnissen als legitime »Abschreckungsmaßnahme« sehen, wird mit dem Wohlergehen von Migrierenden argumentiert, wenn die Erleichterung der Einreise verfolgt wird. Die Justiz ignoriert dabei, dass Schleusungen in der Regel auf Wunsch der Betroffenen passieren. Sie unterscheiden sich damit deutlich von Menschenhandel, auch wenn beide Phänomene in der öffentlichen Debatte oft miteinander gleichgesetzt werden. Die Stigmatisierung als »skrupellose Verbrecher« dient dazu, die Unterstützung von Menschen auf der Flucht grundsätzlich zu diskreditieren. »Geflüchtete haben keine legale Möglichkeit, ins Land zu kommen. Das ist der wahre Grund für das Aufblühen der Schleusungen seit letztem Sommer«, sagt dazu der Dresdner Rechtsanwalt Alexander Hübner, der regelmäßig Angeklagte in diesen Prozessen vertritt. Folgt man der Argumentation und Wortwahl von Staatsanwalt- und Richter*innenschaft im Pirnaer Amtsgericht, entsteht der Eindruck, dass die Empörung über »Schleuser« vielmehr der Migration als solcher gilt. So wird der Angeklagte aus Polen gefragt, ob er nicht gewusst habe, dass es sich bei den Beförderten um »Illegale« gehandelt habe. Auch wenn er ihre Papiere nicht geprüft habe, müsse er »doch gesehen haben, dass diese offensichtlich keine Europäer gewesen seien«. Dass die Menschen »in Polen nicht willkommen« seien, müsse dem Angeklagten bewusst sein. Woher er sich das Recht nehme, »solche Leute« nach Deutschland zu bringen, fragt etwa der Richter. Wer Personen ohne gültige Einreisepapiere hilft, die Grenze nach Deutschland zu passieren, begeht nicht zwangsläufig eine Straftat. Eine strafbare Tat ist dies gemäß Paragraf 96 Aufenthaltsgesetz erst, wenn eine Gegenleistung erwartet oder die Tat wiederholt begangen wird. Ebenfalls strafbar ist die Hilfe, wenn sie zugunsten mehrerer Personen ohne gültige Papiere erfolgt. Zuletzt verschärfte der Bundestag die Rechtslage durch das sogenannte Rückführungsverbesserungsgesetz. Es sieht unter anderem empfindliche Straferhöhungen für »Einschleusungen« vor. Die deutsche »Anti-Schleuser-Politik« verfehlt jedoch ihr eigentliches Ziel der Verhinderung von Grenzübertritten. Im Mai 2024 erklärte die Bundespolizeidirektion Pirna, dass die Zahl der »unerlaubten Einreisen« im Vergleich zum Vorjahr unverändert geblieben ist – trotz zahlreicher Festnahmen und einem seit Einführung von Grenzkontrollen zu Polen und Tschechien im Oktober nahezu vollständigen Rückgang der festgestellten Schleusertätigkeiten im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge. Das belegt die These vieler Solidaritätsorganisationen und aus der Forschung, wonach Verhaftungen und Grenzschließungen lediglich zu einer Verlagerung von Fluchtrouten führen. Diese auf Abschottung und Verfolgung basierende Politik hat auch unmittelbare, direkte Konsequenzen für die lokale Bevölkerung. Bewohner*innen berichten, dass sie bei Ausflügen im Elbsandsteingebirge in der Vergangenheit wiederholt von der Polizei gestoppt und ihre Ausweise kontrolliert wurden, wenn Kopftuch tragende oder aus anderen Gründen als migrantisch gelesene Personen Teil der Gruppe waren. Über ein solches Erlebnis während einer Wanderung mit einem Wanderverein berichtet die Journalistin Riham Alkousaa auf der Plattform X (ehemals Twitter). Nach einem »Bürgerhinweis« wurden sie von der Polizei als »illegale Flüchtlinge« überprüft.