Er lehnt mit dem Rücken an der Wand, die Knie sind gebeugt. In dieser Hockposition verweilt Gordon Emons einen Augenblick. »In Chili zu beißen, wäre auch eine Option«, sagt er. Sowohl die Chilis als auch Emons Demonstration des »unsichtbaren Stuhls« sind Möglichkeiten, um sich von Suchtverhalten abzulenken. »Anti-Craving-Skills«, wie Emons und weitere Mitarbeiter*innen der Caritas es auf einem Schild betiteln. Zu weiteren Optionen gehören Eiswürfel lutschen, Treppen steigen oder Zitronensaft schlucken.
Die Caritas[1]-Suchtberatungsstelle, die Emons leitet, befasst sich speziell mit sogenannten Verhaltenssüchten. Dazu zählen Glücksspiele, das Surfen in sozialen Netzwerken, Gaming, Kaufsucht und Pornografie. In den Beratungsstellen »Lost in Space« und »Café Beispiellos« in Kreuzberg können sich Betroffene erste Hilfe suchen. Die Beratungsräume sind geschmückt mit Pflanzen, Ratgeber-Büchern und Postkarten mit Mut machenden Sprüchen.
»Pro Jahr kommen etwa 1000 Personen zu uns, darunter hauptsächlich Betroffene, aber auch Angehörige«, erklärt Emons. Viele, die sich bei Beratungsstellen melden, würden schon seit zehn Jahren mit ihrer Sucht leben. Es kämen vorrangig junge Männer zur Beratung. Dabei sind Frauen nicht minder davon betroffen. »Bei Frauen wird Verhaltenssucht nicht so schnell erfragt«, so Emons. Überhaupt sei es für Außenstehende schwierig, Verhaltenssüchte wie Kauf- oder Glücksspielsucht[2] zu erkennen, da diese keinen äußerlich auffälligen Schaden anrichten – anders als bei betrunkenen Alkoholsüchtigen[3].
Neben Beratung bieten Mitarbeiter*innen der Caritas auch Präventions- und Frühinterventionsprogramme an. In Schulen leisten sie Aufklärung und geben Workshops zu Mediennutzung und Gaming. Das Gamingverhalten junger Kinder dürfe nicht unterschätzt werden, warnt der Leiter der Suchtberatungsstelle: »Ein Grundschulkind, sagen wir mal vierte oder fünfte Klasse, kann auch mal 200 Euro für Onlinespiele ausgeben.« Ihn überrasche das nicht mehr, sagt Emons. In jeder Klasse gebe es ein, zwei Kinder, die von diesem Suchtverhalten betroffen seien. Insbesondere trifft es sozial ausgegrenzte Kinder, die wenig bis gar keinen Anschluss in der Klasse finden.
Dabei steigt die Tendenz zu höheren Geldausgaben bei Gaming. Musste vor 15 Jahren ein Computerspiel nur einmal gekauft werden, ist heute die Möglichkeit an Kaufoptionen online unbegrenzt. Je nach Spiel kann das eine Kampfausrüstung für die Spielfigur sein oder eine Bewässerungsanlage für die Farm, die man sich aufgebaut hat. Spielehersteller schaffen einen Optimierungsbedarf, der nicht gesättigt werden kann – und kostet.
»Angehörige ermuntern wir dazu, sich etwas abzugrenzen.«
Gordon Emons Caritas Berlin
Wendet sich eine suchtbetroffene Person schließlich doch an die Caritas, um nach Hilfe zu fragen, wird zunächst ein Gesprächstermin vereinbart. Im Schnitt seien es sechs Einzelberatungsgespräche in einem zweiwöchigen Abstand, erklärt Emons. Sind die Betroffenen einverstanden, werden bestimmte Einstellungen am Telefon geändert: Apps werden gelöscht, das Mindestalter heruntergesetzt um etwa eine technische Sperre für Pornografie einzurichten, oder die Kindersperre eingerichtet.
»Angehörige ermuntern wir dazu, sich etwas abzugrenzen und selbst zu schützen«, erklärt der Leiter. So sollen sich Angehörige von Suchtbetroffenen in erster Linie finanziell sichern. Eltern oder Partner*innen von erwachsenen Suchtkranken rät er, nicht mehr das Essen vorbeizubringen, die Wohnung zu putzen oder die Miete zu bezahlen. »Das ist manchmal schwer auszuhalten«, erklärt er. Es sei aber notwendig, damit Betroffene merken, dass sie ein Problem haben.
Mit Verhaltenstherapie habe die Beratung jedoch nichts gemein. »Wir haben auch therapeutische Ansätze, ja. Aber wir sind zunächst sehr pragmatisch und gucken: Wie kannst du dich schützen?« So können Betroffene erst einmal unverbindlich und kostenlos in die Beratungsstelle kommen – die Kosten werden durch die Kirchensteuer und Spendengelder bezahlt. »In der Therapie betrachtet man ja die ursprünglichen Probleme, da wird tiefer geschaut. Das machen wir hier nicht.« Bei der Suche nach einem Therapieplatz greifen sie aber gerne unter die Arme.