Eine Katze schleicht durch die kleine Gasse. Auf Mäuse kann die Samtpfote hier wohl kaum hoffen. An der warmen Lehmmauer eines Hauses sitzt ein hageres Mädchen und genießt die warmen Sonnenstrahlen. Ein paar Schritte weiter kullern zwei Jungs mit nackten Bäuchen ihre Murmeln über den staubigen Untergrund. Eine von einem Esel gezogene Karre mit Stroh holpert über das unebene Straßenpflaster mit zum Teil knietiefen Löchern. Ein alter Mann schlendert neben dem Gespann her und hält die Zügel locker in der Hand.
Eilig hat es hier niemand. Zwischen den schlichten Wohnhäusern der Itchan-Kala, wie die Altstadt offiziell heißt, scheint die Zeit stillzustehen. Ein paar wenige Autos stören die Idylle. Doch es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass Chiwa in längst vergangenen Tagen eines der pulsierenden Zentren entlang der legendären Seidenstraße war. Die usbekische [1]Oasenstadt am Rande der Grenze zu Turkmenistan, auch Xiva oder Khiva genannt, war vor Jahrhunderten[2] einer der wichtigsten Handelsplätze des Orients.
Umgeben ist das malerische und staubige Fleckchen Erde von einer mehr als 2500 Jahre alten Stadtmauer. Obschon diese hier und da ihr Alter nicht verleugnen kann und in Abschnitten durchaus renovierungsbedürftig wäre, umhüllt sie eine der prächtigsten Wüstenstädte des Morgenlandes. Eigentlich fehlt nur eine vorbeiziehende Karawane, um die Bilderbuchkulisse perfekt zu machen.
Kunstvolle Holzschnitzereien zieren die Eingangsportale vieler Häuser. Hinter den Türen öffnen sich großzügige Innenhöfe und auch Werkstätten einheimischer Holzschnitzer. Deren Können ist unverkennbar, doch die Auftragslage lässt offenbar zu wünschen übrig. Und so hocken sie, wie viele andere der knapp 300 Familien, die im historischen Teil von Chiwa zu Hause sind, entspannt auf den Teppichen vor ihren Werkbänken an kleinen Teetischen und genießen bei einem Plausch das eine oder andere Glas des heißen Aufgussgetränks.
»Wir Usbeken lieben schwarzen und grünen Tee. Und vor und nach dem Essen gibt es gerne weißen Tee – wie wir hier den Wodka nennen«, lacht Muzafar Khodjayev. Der 44-Jährige kennt in seiner Heimatstadt jeden Stein, arbeitet im Sommer als Touristenführer, im Winter gibt er Studenten Nachhilfe in Deutsch. Er selber hat die Sprache fast akzentfrei an der Universität im benachbarten Urgench gelernt. Ganze drei Wochen war er im Rahmen eines Stipendiums in Bayern, und doch weiß er mehr über Deutschland als mancher Deutscher.
»Weißer Tee hilft auch, die Hitze, die hier vor allem im Sommer herrscht, besser zu ertragen«, ergänzt Muzafar. Die bisweilen heißen Winde scheinen jede Menge trockene Luft, Sand und Staub aus den umliegenden beiden Wüsten, der usbekischen Kysylkum und der turkmenischen Karakum, über die Stadtmauern zu wehen. Und so schwingen hier unzählige Frauen in farbenprächtigen Kleidern die Reisigbesen, um zumindest die Hauptachsen der Itchan-Kala picobello sauber zu halten. Gemächlichen Schrittes – wie einst die Karawanen, die auf ihrem Weg über die Seidenstraße durch Chiwa zogen – trotten heute Touristen aus aller Herren Länder durch die Straßen und Gassen des Unesco-Weltkulturerbes.
Von Nord nach Süd ist die Altstadt gerade einmal 650 Meter lang, von Ost nach West gar nur 400 Meter. Umgeben ist die 26 Hektar große Itchan-Kala, die als perfekte Kulisse für ein »Märchen aus 1001 Nacht« herhalten könnte, von einen 2200 Meter langen und bis zu zehn Meter hohen Stadtmauer.
Sim, Sohn des biblischen Noah, so beteuert Muzafar, soll der Legende nach die Stadt 3000 vor Christus in Form der Arche angelegt haben. Ihren Namen verdanke sie jenen Kaufleuten, die nach einer langen Reise durch die Wüste in der Oase endlich kühles und kristallklares Trinkwasser vorfanden und voller Verzückung »Chei-wach!« (Oh, wie köstlich!) gerufen haben sollen.
Obwohl Chiwa Tausende von Jahren alt ist (1997 wurde offiziell das 2500-jährige Bestehen begangen), stammt das Gros der heutigen Prachtbauten aus dem 18. und 19. Jahrhundert, nachdem die Perser die Oasenstadt im Jahre 1740 dem Erdboden gleichgemacht hatten. Heute erweist sich die Itchan-Kala als eine Ansammlung von Kuppeln und Quadern, Mauern und Bögen, von Moscheen, Medresen (theologische Hochschulen), Minaretten und Mausoleen – allesamt überwiegend in Lehmfarben oder Blautöne gehüllt und vielfach mit kunstvollen Ornamenten, Fliesen und Mosaiken verziert.
In dem Meer aus über 50 kulturhistorischen Bauwerken bildet das Minarett Kalta Minor einen ungewöhnlichen Blickfang. Der mächtige Turm mit einem Durchmesser von 15 Metern sollte dereinst der mit 70 Metern höchste Moscheeturm der islamischen Welt werden und sogar den Blick bis in das 480 Kilometer entfernte Buchara freigeben. »Weil der Khan befürchtete, man könnte von oben in den Harem blicken, ließ er 1852 den Bau stoppen«, erzählt Muzafar schmunzelnd mit Blick auf den »abgebrochenen Riesen«, der es dennoch auf ein Gardemaß von 26 Metern bringt. Direkt angrenzend sorgt die blau-weiße Fassade der Muhammad-Amin-Chan-Medresse für einen weiteren Blickfang. In den Räumen der einstigen Koranschule ist heute ein Hotel untergebracht.
Nur einen Steinwurf entfernt liegt die Kunya-Ark-Zitadelle. Vom Wachturm der ehemaligen Residenz des Khans eröffnet sich ein prächtiger Rundumblick über die historische Altstadt von Chiwa. Nur der Blick in den Harem bleibt auch von hier verwehrt. Dabei ist der reich verzierte Innenhof durchaus sehenswert, ebenso das einstige Schlafgemach des Khans, der sich zusätzlich zu seinen vier Hauptfrauen bis zu 40 Konkubinen gönnte.
Zu den weiteren Prachtbauten des Weltkulturerbes zählen das Pachlavan-Machmud-Mausoleum mit seiner riesigen türkisfarbenen Kuppel und die sogenannte 1000-Säulen-Moschee. Dabei tragen in der Juma-Moschee tatsächlich »nur« 212 individuell geschnitzte Holzsäulen die Deckenkonstruktion. Lohnend ist auch der Aufstieg auf das 44 Meter gen Himmel aufragende Minarett Islam Khodja.
Von hier lässt sich die Itschan-Kala in ihrer ganzen Pracht in Augenschein nehmen. Zudem fällt der Blick auf die vielen Andenkenverkäufer, die neben Aladin-Schuhen, handgeknüpften Teppichen und Seidenschals vor allem bunte und ungewöhnliche Hüte an den Mann bringen wollen. Darunter auch Mützen aus dem langen, zotteligen Fell der robusten Karakulschafe, die in der Steppe Usbekistans zu Hause sind. Wer solch einen Kopfwärmer hier mitten in der Wüste braucht, bleibt allerdings rätselhaft, zumal die Quecksilbersäule selbst im Winter kaum unter fünf bis acht Grad sinkt.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183560.usbekistan-chiwa-n-wuestenstadt-wie-aus-nacht.html