Mehr als eine Woche nach dem Einmarsch ukrainischer Truppen in das südrussische Gebiet Kursk [1]scheinen sich beide Seiten auf einen längeren Kampf in der Region einzustellen.
Die ukrainische Armee sei in den vergangenen 24 Stunden um ein bis zwei Kilometer vorgedrungen und habe dabei über 100 russische Soldaten gefangen genommen, rapportierte Armeechef Olexander Syrskyj Präsident Wolodymyr Selenskyj am Mittwoch. Die Ukraine behauptet, bereits 1100 Quadratkilometer eingenommen zu haben, Russland spricht von der Hälfte. Überprüfen lassen sich die Angaben nicht. Auch ob die Kleinstadt Sudscha nun in ukrainischer Hand ist, bleibt weiterhin umstritten. Das ukrainische Fernsehen sendete am Mittwoch einen Beitrag, der aus Sudscha stammen soll, in dem zu sehen ist, wie ukrainische Soldaten eine russische Flagge herunterreißen.
Russlands Präsident Wladimir Putin hatte sichtlich verärgert auf die überraschende Offensive und die fehlende Gegenwehr reagiert, sprach erst von der »nächsten großen Provokation«, später von der »Situation«, bevor er eine »Antiterror-Operation« ausrief. Die soll nach Angaben russischer Medien sein ehemaliger Leibwächter Alexej Djumin leiten, der aus der Region stammt. Die Ernennung Djumins ist ein deutliches Zeichen, wie ernst der Kreml die Lage nimmt. Djumin hatte 2014 die Evakuierung des ukrainischen Ex-Präsidenten Viktor Janukowitsch nach Russland organisiert und anschließend die Besetzung der Schwarzmeer-Halbinsel Krim koordiniert.
Die Aufgabe des Offiziers des Föderalen Sicherheitsdienstes laute, die ukrainischen Truppen bis zum Jahrestag des Endes der Schlacht um Kursk im Zweiten Weltkrieg zu vertreiben, sagte der Duma-Abordnete Nikolai Iwanow. Das wäre der 23. August. Angesichts der aktuellen Situation eine absolut unrealistische Vorstellung. Zumal auch die Nachbarregion Belgorod jetzt den Ausnahmezustand verhängt hat.
Medienberichten zufolge soll Russland damit begonnen haben, Schützengräben in der Region auszuheben. Auf einer Kleinanzeigenseite werden dafür bereits Arbeiter gesucht. Laut Anzeige soll dieser Einsatz bis zu 60 Tagen dauern.
Kiew spricht mittlerweile deutlicher als noch vor ein paar Tagen davon, die Eroberungen als eine Art Faustpfand für Friedensverhandlungen zu ukrainischen Bedingungen zu nutzen[2]. Annektieren wolle man die Gebiete hingegen nicht, erklärte der Sprecher des Außenministeriums Heorhij Tychyj. Ob diese Rechnung aufgeht, ist aktuell fraglich. Putin hatte nach Beginn der Offensive der Ukraine vorgeworfen, Zivilisten und das AKW Kursk anzugreifen, weswegen es mit Kiew nichts zu besprechen gäbe.
Ebenso unsicher ist, ob Kiew mit dem Vormarsch für Entlastung an anderen Frontabschnitten sorgen kann. Laut »Wall Street Journal« zieht Moskau tatsächlich Soldaten aus Charkiw und dem Donbass ab. Litauen behauptet zudem, dass Armeeeinheiten aus Kaliningrad nach Kursk verlegt werden. Verifizieren lässt sich all das nicht. Dementsprechend polterte Russlands Außenministeriumssprecherin Maria Sacharowa, die Ukraine habe ihr Hauptziel – den Abzug russischer Truppen aus dem Donbass – nicht erreicht. Stattdessen ist die ukrainische Armee im Osten des Landes weiter auf dem Rückzug.
Der ukrainische Vorstoß hat auch die Diskussion um den Einsatz westlicher Waffen auf russischem Staatsgebiet wieder entfacht. Gleich nach Beginn der Offensive forderte Selenskyj von Frankreich und den USA die Erlaubnis, mit ihren Waffen auf russischem Gebiet aktiv zu sein und auch mit Raketen weit ins Hinterland zu schießen.
Angesichts der Tatsache, dass ukrainische Soldaten auch in deutschen Panzern nach Russland einmarschiert sind, sprach der Linke-Politiker Sören Pellmann [3]vom Fall der »letzten roten Linien«. »Während Deutschland dem Grundgesetz nach ›dem Frieden der Welt‹ dienen solle, rollen deutsche Panzer nun auf russischem Territorium«, schrieb Pellmann auf der Plattform X.
Von der Bundesregierung heißt es hingegen, der Einsatz sei durch das Völkerrecht gedeckt, zumal durch die Übergabe an Kiew aus deutschen Panzern ukrainische geworden seien, behauptete der SPD-Außenpolitiker Nils Schmid und negierte damit die Grundsätze deutscher Rüstungsexporte. Eine sinnvollere deutsche Beteiligung brachte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow ins Spiel. Nach einem Friedensschluss könne Deutschland sich mit Blauhelm-Soldaten vor Ort engagieren, schlug der Linke-Politer im »Tagesspiegel«-Interview vor.