Deutschland ist ein buntes Land, jedenfalls in Sachen Föderalismus. 16 Bundesländer gibt es, und in denen regieren – wenn man die Stärke der beteiligten Parteien berücksichtigt – 13 verschiedene Koalitionen. Gut möglich, dass nach den anstehenden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen[1] (und eventuell in Brandenburg) bisher unbekannte Farbtöne hinzukommen. Denn mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht[2] taucht ein neuer Machtfaktor auf, und die AfD wird deutlich stärker in die Landtage einziehen. Womöglich sogar so stark, dass sie eine für wichtige Entscheidungen nötige Zwei-Drittel-Mehrheit der anderen Parteien blockieren kann.
Das alles zwingt zu neuen Überlegungen, die auch deshalb schwierig sind, weil die Umfragen kurz vor dem Wahltag noch viele Fragen offen lassen. So ist es in Sachsen einerseits denkbar, dass dem nächsten Landtag mit CDU, AfD und BSW nur drei Parteien angehören. Es könnten aber auch sieben sein, wenn Grüne, SPD, Linke und eventuell sogar die Freien Wähler Mandate erringen.
Völlig ungewiss ist daher, welches Regierungsbündnis auf die seit 2019 amtierende Koalition aus CDU, Grünen und SPD[3] folgt. Als recht sicher gilt lediglich, dass die AfD keinen Partner findet, unabhängig davon, ob sie erstmals im Freistaat bei einer Landtagswahl stärkste Kraft wird. CDU-Spitzenkandidat Michael Kretschmer hat einem Bündnis eine Absage erteilt. Auch das BSW schließt eine Koalition oder die Wahl eines AfD-Ministerpräsidenten aus, wenngleich man sich generell in den Parlamenten AfD-Initiativen nicht grundsätzlich verschließen will.
So wird wohl auch künftig in Sachsen kein Weg an der seit 1990 regierenden CDU vorbeiführen. Manche Umfragen lassen eine Fortsetzung des bisherigen Bündnisses möglich erscheinen. Die Chemie zwischen CDU und SPD stimmt jedenfalls. SPD-Spitzenkandidatin Petra Köpping[4] und Kretschmer pflegten im Wahlkampf einen betont harmonischen Umgang. Dagegen beteuert der CDU-Chef seit Monaten, dass er nicht erneut mit den Grünen koalieren will. In der Ökopartei wiederum ist man Kretschmers permanente verbale Ausfälle leid. Spitzengrüne zweifeln, ob die Basis einem erneuten Pakt mit der CDU zustimmen würde.
Sollte ein solches Bündnis scheitern, dann müsste die CDU ernsthaft mit dem BSW sprechen. Kretschmer sieht in der neuen Partei eine Black Box mit weitgehend unbekanntem Personal. Zuletzt kritisierte er den starken Einfluss von Parteigründerin Wagenknecht, der ihn an »Zeiten des Politbüros« erinnere. Schafft die SPD den Sprung in den Landtag, könnte über ein Dreierbündnis verhandelt werden, um der Koalition eine breitere Basis und mehr Stabilität zu verleihen.
Dass Sahra Wagenknecht in möglichen Koalitionsverhandlungen eine Rolle spielt, hat sie immer wieder deutlich gemacht. Die Frau, die nirgends kandidiert, aber überall plakatiert wird, will sich persönlich in Gespräche einschalten[5]. Auf ihre Verhandlungstaktik darf man gespannt sein, denn einerseits hat sie mit der Forderung, eine Landesregierung mit BSW-Beteiligung müsse sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine wenden und für Diplomatie einsetzen, die Latte ziemlich hoch gehängt: Hier werden bundespolitisch zu entscheidende Fragen zur Bedingung für die Landespolitik gemacht. Andererseits spricht sie davon, dass sich spürbar etwas bei Bildung, Bürokratieabbau, direkter Demokratie und Aufarbeitung der Coronazeit tun müsse. Das wiederum ist mit fast jeder Partei machbar.
Insgesamt taktiert Wagenknecht mit der Regierungsfrage, die ihr auch dazu dient, das BSW machtpolitisch aufzuwerten: So hat sie sich schon vor der offiziellen Parteigründung der CDU angeboten, wenn nicht angedient; andererseits warnt sie vor der Gefahr der Wählerenttäuschung; man könnte auch sagen: vor der Entzauberung im Amt. Immerhin würde mit der CDU etwa bei Migration, Sicherheit und Wirtschaft vieles zusammenpassen.
Einzelnen Äußerungen Wagenknechts zufolge will sie Koalitionsverhandlungen in den verschiedenen Bundesländern miteinander koppeln. Nach dem Motto: Ihr (die CDU) wählt uns hier, wir wählen euch dort. Es wäre eine Art Pendeldiplomatie zwischen Dresden und Erfurt. Aus dem BSW hört man bisher kaum eine Widerrede gegen die Dominanz Wagenknechts bis in landespolitische Fragen. Lediglich die Thüringer Spitzenkandidatin Katja Wolf lässt einen gewissen Unmut anklingen und drängt auf mehr Eigenständigkeit.
Wolf könnte durchaus in der nächsten Landesregierung sitzen; eventuell sogar an deren Spitze. In manchen Umfragen liegt das Thüringer BSW nicht weit hinter der CDU, immer aber deutlich vor der Linken. Mit der Höcke-AfD, die klar stärkste Kraft werden kann, will niemand koalieren. Was Wagenknecht generell mit der skurrilen Formulierung begründete, »dass die AfD leider einen sehr starken rechtsradikalen, rechtsextremistischen Flügel hat«. Leider? Wäre also eine AfD ohne Höcke okay?
Im Bereich des rechnerisch Möglichen liegt in Thüringen eine Regierung aus CDU, SPD und BSW. Aber es ist offen, wie viele CDU-Mitglieder oder sogar ganze Kreisverbände auf die Barrikaden gehen, wenn ihr Spitzenkandidat Mario Voigt ein Bündnis mit Wagenknecht sucht. Gegen die erste Ramelow-Regierung gab es 2014 wochenlange Proteste.
Noch schwieriger wäre die Lage, wenn die SPD aus dem Erfurter Landtag fliegt, was in Parteikreisen als Möglichkeit diskutiert wird. Dann bliebe – eingedenk der Weigerung Voigts, mit der Linken über eine Koalition zu reden – eine Minderheitsregierung, bei der die CDU eine BSW-Linke-Koalition oder Die Linke eine CDU-BSW-Koalition tolerieren müsste.
Vom Stichwort Minderheitsregierung ist niemand begeistert. Michael Kretschmer lehnt sie ab, Bodo Ramelow mag eine Neuauflage nicht empfehlen.
Begeistert ist vom Stichwort Minderheitsregierung niemand. Michael Kretschmer lehnt das für Sachsen ab. Und selbst Bodo Ramelow[6], der in Thüringen erstmals ein Minderheitskabinett über die volle Wahlperiode führte, und das auch noch unfallfrei, mag eine Neuauflage nicht empfehlen. Er wünscht sich »eine stabile Regierung«. Gemeint ist: ein Kabinett, das sich auf eine Mehrheit im Landtag stützen kann.
Stabile Verhältnisse, wie auch immer sie aussehen sollten, müssten in Sachsen bis Ende Januar 2025 hergestellt sein. Binnen 30 Tagen nach der Wahl muss sich der Landtag konstituieren; dann bleiben vier Monate, um einen Ministerpräsidenten zu wählen. Gelingt das nicht, muss neu gewählt werden. In Thüringen gibt es keine solche Frist in der Landesverfassung. Nicht ausgeschlossen also, dass das rot-rot-grüne Minderheitskabinett Ramelow noch eine ganze Weile amtiert, wenn sich keine neue Mehrheit zusammenrauft.