nd-aktuell.de / 01.09.2024 / Kommentare / Seite 1

Digitale Seifenblasen machen Nazis

Anne Roth findet Ilko-Sascha Kowalczuks Thesen zum Osten nicht besonders überzeugend

Anne Roth
Die Nazis werden immer stärker – die politischen Erklärungen dafür immer skurriler.
Die Nazis werden immer stärker – die politischen Erklärungen dafür immer skurriler.

Es weiß ja niemand so genau, was das ist, »die Digitalisierung«, aber im Zweifel ist sie schuld. Jetzt sogar an den Nazis im Osten!

Ja, so habe ich auch geguckt.

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat passend zu den Landtagswahlen ein neues Buch[1] geschrieben, in dem er den Osten erklärt. Er ist beileibe nicht der Erste, aber gerade ist der Bedarf natürlich wieder groß – wie ungefähr bei jeder Landtagswahl im Osten, seit die Nazis in den Parlamenten unübersehbar geworden sind. Offensichtlich wurde bislang zu wenig zugehört und noch weniger verstanden, und so sind wieder alle (im Westen) ganz entsetzt. Zurecht, die Ergebnisse sind entsetzlich, aber es ist immerhin gut, wenn nach Ursachen gesucht und mittlerweile bemerkt wird, dass es unter den sich auskennenden Ossis sogar unterschiedliche Meinungen dazu gibt.

Herr Kowalczuk also wurde vor den Wahlen rauf und runter interviewt: Er hätte sich für sein Buch keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können. Was den Inhalt betrifft, werde ich mir ganz sicher nicht anmaßen, seine Kompetenz anzuzweifeln. Könnte ich auch gar nicht, selbst wenn ich wollte. Da das Buch quasi seit Erscheinen vergriffen ist, es ist gerade gar nicht möglich, es zu lesen.

In den Interviews erklärt er, dass die Menschen im Osten überfordert sind und zwar einerseits von der Transformation seit der Wende und andererseits von der »digitalen Revolution« (z.B. im heute journal am 21. August[2]). Das führe dazu, dass sie sich Sicherheit wünschten und nach der Vergangenheit sehnten, in der alles besser gewesen sei, und deswegen autoritäre Parteien wählten.

Der Osten und seine Geschichte sind nicht meine Expertise, wobei ich vermute, dass neben der allgemeinen Verunsicherung ein bisschen rassistische Grundhaltung auch eine Rolle spielt, aber vielleicht steht sowas ja auch im Buch.

Wovon ich aber was verstehe, ist die Digitalisierung, und ich würde sagen: Viele Menschen sind ganz bestimmt überfordert, aber nicht von Digitalisierung. Hätten wir die, würden wir unfassbar viel Zeit sparen, weil ein großer Teil unserer täglichen Bürokratie unsichtbar im Hintergrund erledigt würde. Wir würden nicht Stunden auf grausigen Online-Plattformen verbringen, um aus immer unübersichtlicher werdenden Angeboten das herauszufischen, das uns nicht über den Tisch zieht. Wir müssten nicht überall neue Accounts anlegen mit immer neuen Passwörtern, bei denen die einen unbedingt und die anderen auf keinen Fall Sonderzeichen enthalten sollen. Die Bahn könnte nicht einfach entscheiden, dass es die Bahncard nur noch digital gibt, solange nicht alle damit gut zurechtkommen, und würde uns nicht doppelt Geld abknöpfen[3], wenn der Akku alle ist.

Was wir stattdessen haben: einen Abbau von Infrastruktur und Daseinsvorsorge, der hinter einem Blumenstrauß von dysfunktionalen Apps verborgen wird. Schulen und Schwimmbäder zerfallen, Post- und Bankfilialen werden geschlossen, Bahn und ÖPNV fahren nur mit Glück und auf dem Land meist gar nicht. Dafür muss der Eintritt ins Schwimmbad und der Arzttermin online gebucht werden. Für alles gibt es eine (andere) App, die nichts daran ändert, dass es gar keine Termine gibt und Opa mit dem Online-Banking nicht klar kommt, was kein Problem wäre, wenn die Bank noch da wäre.

Das ist keine Digitalisierung, sondern es sind neoliberale digitale Seifenblasen, die schön schillern, während das eigentliche Problem ziemlich analog ist. Jedes Start-Up mit »Blockchain« im Pitch wird in Fördergeldern ertränkt und die fehlen dann eben woanders.

Was die Sehnsucht nach der Vergangenheit betrifft: Ich war sicher nicht die einzige Frau aus dem Westen, die nach der Wende wissen wollte, wie es kam, dass so viele Frauen aus dem Osten so selbstverständlich in technischen Berufen arbeiteten, Naturwissenschaften studiert und die Grundlagen dafür auf polytechnischen Oberschulen gelernt hatten. Nicht alles aus dem DDR-Bildungssystem schien uns attraktiv, aber die Selbstverständlichkeit, mit der mir mehr oder weniger alle aus dem Osten, die ich kannte, physikalische Vorgänge erklären konnten, hat doch sehr beeindruckt.

Wenn also die überforderten Menschen von heute irgendwas von damals zurückhaben wollen und deswegen die falschen Parteien wählen: Müssten die nicht auch von den technischen Kompetenzen träumen, die mit der DDR untergegangen sind? Vielleicht würde es dann ja auch was mit der Digitalisierung.

Links:

  1. https://www.chbeck.de/kowalczuk-freiheitsschock/product/36959133
  2. https://www.zdf.de/nachrichten-sendungen/heute-journal/persil-und-mercedes-100.html
  3. https://www.bahn.de/faq/was-passiert-wenn-mein-smartphone-akku-leer-ist-oder-ich-mein-smartphone-nicht-bei-mir-habe