Musikalische Trends kommen bekanntermaßen so schnell, wie sie gehen: Gut zehn Jahre ist es her, da war ein Genre namens »Postpunk« der heiße Scheiß. Nicht dass dieser damals etwas gänzlich Neues gewesen wäre – die erste Postpunk-Welle hatte immerhin schon 35 Jahre vorher, Ende der 70er[1] Jahre, eingesetzt. Und doch war das, was damals national wie international aus urbanen musikalischen Zentren wie Bristol, London oder Stuttgart in die Peripherie einsickerte, unbekümmert, schnörkellos, aufregend und direkt. Ein Katalysator einer Wut, die nicht so recht wusste, wogegen sie sich richtet, aber gerade deshalb von so vielen verstanden und nachempfunden wurde.
Zehn Jahre später ist der Begriff inhaltlich so entleert wie sonst nur der von »Indie-Musik«: Gerade weil er millionenfach bemüht wurde, ist er so banal und irrelevant geworden. Zwar gibt es auch heute noch jeden Monat neue Postpunk-Platten wie Sand am Meer, aber bis auf wenige Ausnahmen ist das Genre zu einer Spirale des redundant-minimalistischen Immergleichen verkommen: monotone Bassläufe, reduzierte, verhallte Singlenote-Gitarren, Drums wie aus der Konserve und Texte, die in selbstmitleidsvoller Pose die eigene Gefühlslosigkeit besingen.
Anders ist es im Falle der Band Die Nerven, die das Postpunk-Revival Anfang der 2010er Jahre mit einläutete. Die Entwicklung, die das Stuttgarter Trio um Sänger und Gitarrist Max Rieger, Bassist Julian Knoth sowie Drummer Kevin Kuhn seit ihrem Debüt »Fluidum« aus dem Jahr 2012 genommen hat, ist dabei bemerkenswert. Von der brachial-wütenden Frühphase haben sie sich längst gelöst; spätestens seit ihrem 2018er Album »Fake« und ihrem vier Jahre später veröffentlichten selbstbetitelten Nachfolger ist der Sound der drei von einem hohen Maß an Varianz geprägt: Die Dynamik des Postrock, die Eingängigkeit des Pop und die Brachialität des Noise Rock[2] kulminieren in einer unverkennbaren klanglichen Charakteristik. Die Band hat Genrezuschreibungen immer gehasst. Heute bedarf es dieser im Grunde genommen nicht mehr: Die Band ist ihr eigenes Genre geworden.
Der auf den beiden letzten Alben etablierte Soundmix wird auch auf dem neuen Werk »Wir Waren Hier« konsequent weiter fortgeführt. Gleich der Opener »Als ich davonlief« beginnt mit einem für die Band typischen Intro, das ihren subtilen Humor offenbart: Aus dem Hintergrund ruft eine Stimme »Eins, zwei, drei, vier«, doch was folgt, ist Leere. Erst verzögert setzen Gitarre, Bass und Schlagzeug im Zusammenspiel ein. Tatsächlich ist es schwer, mit den begrenzten stilistischen Mitteln einer Rockband Überraschungsmomente hervorzurufen. Den Nerven gelingt dies mit kleinen Kniffen wie diesem jedoch immer wieder.
Schnelle Tracks wie »Das Glas zerbricht und ich gleich mit«, »Große Taten« oder »Ich will nicht mehr funktionieren« wechseln sich im Laufe des Albums mit groovigen (»Wir Waren Hier«, »Bis ans Meer«), mitunter gar balladesken Momenten (»Achtzehn«, »Disruption«) ab. Über all dem liegt eine bedrohliche, mitunter gar apokalyptische Grundstimmung, die aber von einer derart übersprudelnden Spielfreude geprägt ist, dass sie einen am Ende seltsam heiter zurücklässt.
Die Nerven: »Wir Waren Hier« (Glitterhouse/Indigo)