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Vier Blocks und ein Vorurteil
Anders als man denkt: Sozialraumstudien zur Weißen Siedlung und zur High-Deck-Siedlung in Berlin-Neukölln
Eine Person spricht das aus, was viele denken, die in der Weißen oder in der High-Deck-Siedlung in Berlin-Neukölln leben: »Wir möchten gesehen werden. Aber nicht nur die schlechten Sachen.« Die Fernsehserie »4 Blocks« prägte das Bild von einem Terrain, das von Gangstern beherrscht wird. Die Krawalle zu Silvester 2022 mit Übergriffen auf Rettungskräfte wirkten wie eine Bestätigung für das schlechte Image.
Die Berliner CDU wollte die Vornamen der Tatverdächtigen wissen und bediente so das Vorurteil, die Randalierer und Schläger seien ausschließlich oder vornehmlich junge Araber gewesen. Ende Januar 2023 polterte CDU-Fraktionschef Kai Wegner, wenn man die Probleme nicht benenne, könne man sie nicht lösen. »Wir haben in Berlin ein Gewaltproblem 365 Tage im Jahr« – von rechts, von links »und ja, auch ein Gewaltproblem junger Menschen mit Migrationshintergrund«. Die Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl am 12. Februar 2023 belohnte solche Sprüche. Die CDU wurde mit 28,2 Prozent der Stimmen erstmals seit 1999 wieder stärkste Kraft im Berliner Landesparlament und Wegner wurde Regierender Bürgermeister. Doch was wird aus den Menschen, auf deren Kosten er Wahlkampf machte?
»Wir möchten gesehen werden. Aber nicht nur die schlechten Sachen.«
Aussage der Bewohner
Schon Monate vor Silvester 2022 hatte der Bezirk Neukölln die Idee, eine Sozialraumstudie für die High-Deck-Siedlung in Auftrag zu geben. Es sei aufgefallen, dass in diesem sozialen Brennpunkt Angebote für Jugendliche fehlen, sagt am Freitag die zuständige Stadträtin Sarah Nagel (Linke). Auch für die benachbarte Weiße Siedlung wurde dann noch eine Studie angeschoben. »Auch dort ist es so, dass die sozialen Herausforderungen groß sind«, erklärt Nagel. Der Bezirk ließ sich die beiden Analysen zusammen rund 60 000 Euro kosten. Die Landeskommission Berlin gegen Gewalt gab in etwa nochmal so viel Geld dazu. Den Auftrag erhielt die gemeinnützige Camino GmbH. Deren Mitarbeiter Sarah Riese und Philippe Greif stellen die Ergebnisse nun am Freitag vor.
Zwei Drittel der Bewohner haben eine Migrationsgeschichte, ein Drittel hat bis heute keinen deutschen Pass, ein Viertel ist nicht einmal Bürger eines anderen EU-Staates, was es beispielsweise schwierig bis unmöglich macht, bestimmte Berufe zu ergreifen. Die Jugendkriminalität liege zwar über dem Berliner Durchschnitt, doch anderswo in der Hauptstadt gebe es viel schlimmere Ecken, stellt Riese klar. Ein Überfall auf offener Straße ist weniger wahrscheinlich als gedacht. Gewalt erleben die Bewohner eher in den eigenen vier Wänden. Es gibt Väter, die ihre Frauen und Kinder schlagen.
Eine Brutstätte für häusliche Gewalt sind die beiden Siedlungen auch deshalb, weil Familien hier sehr dicht aufeinander hocken, was für Konflikte sorgt. Die Wohnverhältnisse sind beengt. Mit knapp 27 Quadratmetern pro Person haben die Menschen fast zwölf Quadratmeter weniger Platz für sich als der Durchschnittsberliner. In der High-Deck-Siedlung leben zum Teil fünf Personen in anderthalb Zimmern. Ein besonders großes Problem sei das während der Corona-Pandemie gewesen, berichtet Philippe Greif. Eltern schickten ihre Kinder raus, Polizisten schickten sie wegen der Kontaktbeschränkungen wieder rein.
Die Jugendlichen sind trotzdem gar nicht so unzufrieden mit ihrem Viertel. Der schlechte Ruf einer Adresse hier, der ihnen bei Bewerbungen schadet, ist ihnen natürlich bewusst. Aber sie sagen: »Alle sind cool. Man kennt sich.« In der High-Deck-Siedlung läuft man sich schließlich ständig über den Weg. Für muslimische Mädchen ist das manchmal auch belastend. Sie fühlen sich beobachtet, ja überwacht. In der Anonymität der Hochhäuser in der Weißen Siedlung geht es nicht so streng zu.
Eigentlich sollten Schlussfolgerungen erst aus den fertigen Studien gezogen werden. Doch die Diskussionen nach Silvester 2022 hatten eine positive Seite: Nun genügten schon Zwischenergebnisse, um aktiv zu werden. Im Sommer 2023 startete der Humanistische Verband sein Projekt »Mädchenräume«. Vor einer Woche konnte er ein bei einer kommunalen Wohnungsgesellschaft bezogenes Quartier eröffnen. 30 bis 40 Mädchen kommen jetzt schon vorbei – und sie finden hier Rat und Hilfe bei zwei Kolleginnen, die einst nach Deutschland geflüchtet sind und in der Nachbarschaft wohnen. Das Besondere: Väter und Brüder können nicht durchs Fenster schauen und die Mädchen dürfen einfach Mädchen sein, wie Bereichsleiterin Dorina Thomas erläutert.
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Damit nicht genug: Straßensozialarbeiter von Outreach sind bis spät unterwegs und für die Jugend da. Projektleiterin Samira Bekkadour erzählt am Freitag begeistert von einem Straßenfußballturnier, an dem sich Feuerwehrleute beteiligten. Dass wirklich die Feuerwehr kommt, obwohl Silvester 2022 Rettungskräfte attackiert wurden, hätten die Jugendlichen bis zum Anpfiff nicht so recht glauben können. Sozialraum-Koordinator Michael Brandt räumt mit dem Vorurteil auf, »dass die Jugendlichen zu nichts Lust haben«. Sie trugen zum Gelingen des Turniers etwa als Schiedsrichter bei.
Ingo Siebert von der Kommission gegen Gewalt nennt die sozialräumlichen Analysen beispielhaft. Sie seien grundlegend dafür, geeignete Strategien zu entwickeln. Nun könnte vielleicht alles gut werden, wenn nicht die Sparvorgaben des Senats wären. Zumindest die Gewaltprävention sei »nur leicht in der Kürzung«, versucht Siebert zu trösten.
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