Berlin: Bezirke werden Dealer

Zwei Berliner Bezirke initiieren ein Modellprojekt zum Verkauf von Cannabis

  • Hannah Blumberg
  • Lesedauer: 5 Min.
Woher das Cannabis kommt und wie es konsumiert wird, ist entscheidend für einen gesunden Konsum.
Woher das Cannabis kommt und wie es konsumiert wird, ist entscheidend für einen gesunden Konsum.

Zwei Berliner Bezirke wollen high hinaus. Clara Herrmann (Grüne), Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, sagt es so: »Wir wollen Modellregion werden und wir wollen erste Modellregion werden.« Bei einer Pressekonferenz in der Friedrichshainer Pablo-Neruda-Bibliothek geht es um ein geplantes Modellprojekt zur Abgabe von Cannabis in Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg. »Heute sitzen wir hier, um ein neues Kapitel aufzuschlagen«, so die Politikerin.

Der Plan ist ambitioniert: Über 2000 Proband*innen sollen für fünf Jahre Cannabis, das dem Arzneimittelstandard entspricht, zum Freizeitkonsum über eigens dafür eingerichtete Stellen beziehen. In den maximal drei Verkaufsstellen pro Bezirk soll geschultes Fachpersonal zu weniger schädlichen Alternativen zum klassischen Rauchen beraten. Personengebundene Ausweise ermöglichten eine Einsicht in die Lieferkette und das Konsumverhalten der Proband*in.

»Was wir mit den Abgabestellen möchten, und das tun wir in der Schweiz, ist, dem Konsumenten, der ohnehin schon konsumiert, einen aufgeklärten Konsum zu ermöglichen. Ihm vor allem auch zu ermöglichen zu verstehen, was er da konsumiert«, sagt Finn Hänsel, Geschäftsführer der Sanity Group, des Unternehmens, mit dem die Bezirke für die Cannabis-Ausgabe kooperieren. Er bezieht sich auf eine in Basel bereits angelaufene Studie, in der, was in Berlin geplant ist, schon erfolgt und Erfolge zeigt.

Die Sanity Group ist auf den Bezirk zugekommen. »Wir sind ein Medizinal-Cannabisunternehmen hier am Standort Berlin, eines der führenden in Deutschland«, erklärt Hänsel. Man sei also definitiv kein Genussmittelhändler, sondern habe den Forschungsschwerpunkt im Hintergrund. Dieser Forschungsschwerpunkt war letztlich ausschlaggebend für die Entscheidung der Bezirke zugunsten der Sanity Group. Kooperationspartner für die Forschung ist die Humboldt-Universität zu Berlin (HU). »Ich freue mich ganz besonders, dass wir an diesem Vorhaben hier in der Stadt, in der wir ja beheimatet sind, teilhaben können«, sagt der Wissenschaftler Christian Ulrichs im Namen der Universität, an der seit sieben Jahren zu Cannabis geforscht wird und Anfang 2024 das »Cannabis Research Lab« gegründet wurde.

»Um den Schwarzmarkt auszutrocknen, braucht es genau das, was wir gemeinsam machen.«

Clara Herrmann Bezirksbürgermeisterin Friedrichshain-Kreuzberg

Der Preis des angebotenen Cannabis soll vergleichsweise niedrig sein. »Wir werden nicht den Schwarzmarkt unterbieten, um Konsum zu fördern, das wollen wir natürlich vermeiden«, so Hänsel. Aber man werde schauen, dass einem Konsumenten zum gleichen Preis die bessere Wahl geboten werde. Das Cannabis soll importiert werden, aus Ländern wie etwa Kanada, Uruguay oder Dänemark. Aber die einzigen drei deutschen Produzenten von medizinischem Cannabis möchte die Sanity Group nicht ausschließen. Fünf Prozent der Einnahmen plant das Unternehmen den Bezirken zu spenden, wo sie für Präventionsarbeit etwa an Schulen Verwendung finden sollen.

Hannes Rehfeldt (CDU), Gesundheitsstadtrat im ebenfalls teilnehmenden Bezirk Neukölln, erklärt gleich zu Beginn die Notwendigkeit eines solchen Modellprojekts. »Das Konsum-Cannabisgesetz ist ein Fehler, es ist handwerklich schlecht«, sagt er. Es sei aus bezirklicher Sicht nicht vollziehbar, es schaffe Unsicherheit, es erschwere massiv die Strafverfolgung. »Das Konsum-Cannabisgesetz ist ein Konjunkturprogramm für die organisierte Kriminalität.« Laut Hänsel kam der Gesetzesbeschluss im Frühjar 2024 selbst für die Branche überraschend. Seither ist der private und gemeinschaftliche Anbau von Cannabis erlaubt. Im Gesetz schon angedacht sind regionale Modellvorhaben mit kommerziellen Lieferketten. Denn wie auch Hänsel betont, gibt es Lücken im Gesetz, die mit einer sauberen Abgabe geschlossen würden.

Das größte Problem ist für Konsument*innen ohne grünen Daumen ist, dass sie ihre Rauchware am Schwarzmarkt besorgen müssen, wo eine konsistente, nicht gesundheitsgefährdende Qualität nicht gesichert ist. »Um den Schwarzmarkt auszutrocknen, braucht es genau das, was wir gemeinsam machen«, so Clara Herrmann, deren Bezirk sich seit 2013 um eine Legalisierung bemüht. Rehfeldt formuliert es knapper: »Jeder Euro, der nicht in der Hasenheide ausgegeben wird, ist ein Erfolg.«

Muckefuck: morgens, ungefiltert, links

nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss.

Finn Hänsel überschlägt, dass bei einem geschätzten Anteil von etwa zehn Prozent Cannabis-Konsumenten im urbanen Umfeld 70 000 Menschen in Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln Kiffer*innen sind. »Die gehen heute in den Görlitzer Park, niemand weiß, was dort konsumiert wird, wie viel THC da drin ist, was für Verunreinigungen da drin sind.« Auch wenn niemand genau Bescheid weiß, die Sanity Group hat zumindest eine Ahnung. Das Unternehmen hat eine nicht repräsentative Stichprobenanalyse durchgeführt, bei der auch Cannabis-Proben vom Berliner Schwarzmarkt untersucht wurden. Sie ergab in etwa 70 Prozent der Proben Verunreinigung durch Viren, Bakterien, Pestizide und Fäkalien. Auch eine räumliche Trennung von Cannabis und härteren Drogen sei in der Herstellung und beim Dealer selbst oftmals nicht gegeben, sagt Hänsel. »Es gibt auch sicherlich den netten Homegrower um die Ecke, der den Bezirk mit hochqualitativem Cannabis aus dem eigenen Wohnzimmer versorgt. Aber, man muss ganz ehrlich sagen, das ist die Minderheit.«

Bis zur Genehmigung des Antrags, den Bezirke, Sanity Group und HU gemeinsam beim Bund einreichen, könnte es allerdings bis ins nächste Frühjahr dauern. Auf der Pressekonferenz wird zunächst eine Absichtserklärung unterschrieben, mit der, wie die Bezirksbürgermeisterin sagt, ein neues Kapitel aufgeschlagen werden könnte.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.