Es war ein überaus bitteres Ende für den aufopferungsvoll kämpfenden Ding Liren. Vor dem Duell um die WM-Krone[1] im Schach hatte ihm kaum jemand zugetraut, überhaupt mithalten zu können. Der Chinese musste nach seinem Titelgewinn vor anderthalb Jahren mit psychischen und seelischen Schwierigkeiten umgehen, daraus wurde unweigerlich eine sportliche Krise. In Singapur hat er sich gegen den 18-jährigen Herausforderer Dommaraju Gukesh[2] herausgekämpft, mit einem fatalen Fehler im letzten Zug jedoch alles verspielt.
Sein außergewöhnliches Talent aber konnte der Titelverteidiger[3] zeigen. Immer wieder verteidigte der 32-Jährige verbissen gefährliche Positionen[4]. Und als er nach dem 11. Spiel dann doch in Rückstand geriet, zeigte er tags darauf eine makellose Leistung, die es ihm erlaubte, mit einigen zunächst unspektakulär wirkenden Manövern Gukesh an die Wand zu drücken. Es blieb seine beste Leistung in diesem Duell.
Dings letzter Zug bei einer eigentlich ausgeglichenen Stellung in der 14. Partie am Donnerstag, bei dem er seinen Turm herschenkte, befeuerte schlussendlich auch wieder die Diskussionen über das Niveau dieser Weltmeisterschaft. Einige Großmeister wie Hikaru Nakamura oder Magnus Carlsen[5] betonten das ganze Turnier über, dass es einem Titelkampf nicht genüge. Möglich, dass hier gekränkte Eitelkeiten eine Rolle spielten. Oder der in der Schachwelt weitverbreitete dickhodige Machismus. Denn Datenanalysen beweisen das Gegenteil: Das Computermodell des Spieltheoretikers Mehmet Ismail kommt zu dem Schluss, dass die Spielgenauigkeit dieses Jahr nur von einem einzigen Match übertroffen wird – der legendären Begegnung zwischen Garry Kasparov[6] und Viswanathan Anand im Jahr 1995.
Das ist auch deswegen erstaunlich, weil diese WM auch eine Rückkehr dessen war, was man das »romantische Schach« nennen könnte. Beide Spieler versteckten sich nicht hinter einer grundsoliden Vorbereitung, sondern versuchten immer wieder, den Gegner zu überspielen und ihm einen Fehler zu entlocken. Regelmäßig wurde Gukesh in den Pressekonferenzen gefragt, warum er in einer völlig ausgeglichenen Stellung entschieden hatte, doch noch ein paar Züge zu spielen. Seine Antwort war so simpel wie einleuchtend: »I just enjoy playing chess.« Dieser Genuss, Schach zu spielen, führt zur Pointe dieses Zweikampfes: Am Ende trug jener den Sieg davon, der am Spiel selbst den größeren Spaß hat.
Mit dem Sieg des indischen Teenagers wird auch der Generationenwechsel offensichtlicher, auf den im Schach seit einiger Zeit gewartet wird. Die bislang Dominanten, zu denen neben Carlsen und Nakamura auch die ehemaligen Herausforderer Ian Nepomniachtchi und Fabiano Caruana gehören, werden von einer ganzen Reihe junger Spieler bedrängt.
Gukesh ist natürlich an erster Stelle zu nennen, dahinter stehen der Usbeke Nodirbek Abdusattorov oder Alireza Firouzja aus Frankreich bereit, um die ganz große Bühne zu betreten. Und zudem eine Handvoll weiterer indischer Spieler wie Rameshbabu Praggnanandhaa, Nihal Sarin oder Arjun Erigaisi, der in diesem Jahr sehr knapp davor war, Magnus Carlsen von der Spitze der Weltrangliste zu verdrängen. Zum erweiterten Kreis dieser jungen Angreifer gehört auch der Deutsche Vincent Keymer[7], der bei dem WM-Duell Teil des Teams Gukesh war.
Zum Siegerteam gehörte auch Viswanathan Anand. Das ist vielleicht die erstaunlichste Geschichte dieser WM. Dass aktuell so viele indische Großmeister unter der jetzt die Weltspitze angreifenden Generation sind, ist zuvorderst sein Verdienst: Als Anand 2007 die jahrzehntelange russische Dominanz durchbrach, war er ein Solitär ohne große Unterstützung im Rücken. Das hat sich inzwischen grundlegend geändert: Indische Spieler*innen werden vermutlich auf Jahre diesen Sport mitbestimmen. Die indische Stadt Chenai, in der Anand in einem britischen Schachklub einst viel gelernt hat, ist inzwischen eine der großen Weltmetropolen dieses Sports.
Das stellt vielleicht auch noch mal die Frage neu, wer der größte Schachspieler aller Zeiten sein könnte. Auch wenn Magnus Carlsen ohne Frage auf dem Brett in einer Weise seine Zeit dominiert hat, wie keiner zuvor, wird er nicht behaupten können, einen ganzen Subkontinent für den Sport erschlossen zu haben. Vielleicht erklärt dies zumindest teilweise die Schmallippigkeit, mit der der Norweger die aktuellen Partien kommentierte.