DT64 wurde 1993 eingestellt. Warum lohnt es sich, an diesen Sender zu erinnern?
Marion Brasch: Weil wir in der Zeit vor und nach 1989 ein völlig neues Radio gemacht haben. Bei uns hat es nicht so etwas wie eine Wende gegeben: Denn das, was wir vor dem Mauerfall schon gemacht haben, haben wir auch danach weiter so umgesetzt.
Alexander Pehlemann: Für mich als Hörer war DT64 ein sehr prägender Sender, insofern hat meine Mitwirkung am Buchprojekt auch nostalgische Gründe. Besonders gemacht hat ihn erst einmal die Tatsache, dass es ein Jugendradiosender war, der 24 Stunden gesendet hat. Und das in einem breiten Spektrum, das auch viel Platz für Nischenthemen bot, etwa im Bereich popkultureller Subversionen. Das war etwas Besonderes.
Auch für den Westen?
Pehlemann: Auf jeden Fall! Es gab natürlich einen Wettbewerb, gerade in Berlin mit den Sendern Rias, SFB und anderen. Sie alle haben natürlich versucht, den besten Köder auszuwerfen, um die Jugend zu gewinnen. Und nicht zuletzt ging es – gerade in der Zeit nach dem Mauerfall – bei DT64 auf kulturell-medialer Ebene auch um Identitätsverhandlungen.
Inwiefern?
Brasch: Bereits in der Frühphase des Senders ab 1964 ging es nicht nur darum, die Jugend zu unterhalten, sondern auch darum, ihre Themen zu behandeln. Damit war der Sender lange auf Parteilinie. Aber je unruhiger die Zeiten wurden, desto unruhiger wurden auch wir. Die Redaktion war damals sehr jung – damit waren die Probleme der jungen Leute auch unsere Probleme. Als die Schließung des Senders im Raum stand, hat es die Jungen dann auch auf die Straßen getrieben, weil sie gesagt haben: Dieser Sender ist für uns buchstäblich existenziell.
Letztlich war der Kampf um den Erhalt des Senders nicht erfolgreich. Steht der politische Umgang mit DT64 auch symptomatisch für den generellen Umgang mit dem Erbe aus dem Osten?
Brasch: Absolut! Das ist geradezu ein Paradebeispiel dafür. Es war ein vorsätzlicher Plan, dass der Sender abgewickelt werden sollte. Dass die Pläne der schnellen Schließung anfangs noch scheiterten, war bereits ein beachtlicher Erfolg für unser Engagement.
Was war der Hintergrund für die Gründung 1964?
Pehlemann: 1964 organisierte die FDJ das sogenannte Deutschlandtreffen, im Zuge dessen wurde ein Festivalsender ins Leben gerufen. Daher auch der Name: DT64. Der Sender war ein Novum, weil einerseits relativ frei moderiert, andererseits eben auch viel Beatmusik gespielt wurde. Ein Jahr später allerdings wurde Beatmusik in der DDR[1] bereits wieder verboten. Und so war der Sender über die Jahre auch immer den kulturpolitischen Wirrungen und Kehrtwenden des Landes unterworfen.
Mit der Gründung des Senders ging die Hoffnung einher, die Jugend könnte sich damit besser mit den Verhältnissen arrangieren. So war etwa der damalige Staatschef Walter Ulbricht ein wichtiger früher Förderer des Senders. Inwiefern ist dieses Kalkül aufgegangen?
Brasch: Wenn ich da jetzt von mir ausgehe: Ich habe den Sender nur sehr gezielt gehört, wenn mich was interessiert hat. Aber generell war es schon so, dass die SED sehr früh verstanden hat, dass man diesen Sender an einer längeren Leine lassen muss als andere Sender oder Institutionen.
Warum?
Brasch: Weil es um die Jugend ging und klar war, dass man ihr was bieten muss, um sie bei der Stange zu halten. Insofern waren wir im Vergleich zu anderen Medien auch durchaus privilegiert. Aber das ist uns erst im Rückblick bewusst geworden. Damals war uns das noch nicht klar.
Wann sind Sie das erste Mal mit DT64 in Berührung gekommen?
Pehlemann: Das war 1986. Zuvor war ich in Frankfurt/Oder auf einer Sportschule, wo ich auch Westsender empfangen konnte. Dann musste ich nach Torgelow an der polnischen Grenze, wo Westsender sehr schlecht reinkamen. Aber auch DT64 kam dort erst 1987 auf UKW. Eine Sendung, die ich davor regelmäßig hörte, war die »Beatkiste« auf Stimme der DDR mit Lutz Schramm[2]. Kurz darauf – Silvester 1986 – hat er dort eine Spezialsendung »Parocktikum« gemacht. Insgesamt über fünf Stunden lang, das war irre.
Was lief da so?
Pehlemann: Viel Punk, New Wave, Post Punk, aber auch osteuropäische Sachen. Und eben auch Aufnahmen aus der DDR, die – wie sich später herausstellte – eigentlich illegal waren. Die wurden gesendet, aber es passierte nichts. Das hat mich ganz stark geködert und geprägt. Mit der Zeit wurde »Parocktikum« zu meiner Lebenstaktung. Die Sendung war für mich nicht nur Zugang zu einer Musikwelt, sondern zu einer kulturellen Welt insgesamt.
Brasch: Das »Parocktikum« zum Beispiel habe ich auch gelegentlich gehört. Ansonsten erinnere ich etwa an die Sendung »Mensch du«: Dort wurde Mitte der 80er Jahre etwa über Homosexualität berichtet. Das hat mich sehr fasziniert. Das Thema hat mich zwar nicht persönlich betroffen, aber ich fand es gut, dass der Sender sich für solche Themen zu öffnen begann. Man muss aber auch sagen: Das normale Tagesprogramm in jener Zeit war kaum zu ertragen.
Inwiefern?
Brasch: Der Sender war natürlich komplett auf Regierungslinie, das darf man nicht vergessen. Typisch für jene Zeit waren zum Beispiel ellenlange Ernteberichte.
Wie kommt es, dass der Sender dann trotzdem ein vergleichsweise rebellisches Image hat?
Brasch: Das rebellische Image hatte er anfangs nicht, das kam erst später. Das ging 1988 los mit dem Verbot der Zeitschrift »Sputnik« und mit Gorbatschows Glasnost- und Perestroika-Politik. So kam es zum Beispiel zu der legendären Geschichte, dass die damalige DT64-Redakteurin Silke Hasselmann live in der Sendung sagte: »Heute ist ein Sputnik abgestürzt.« Das war eine subtile Form der Rebellion. Ein Jahr später weigerte sich dann ein Moderator, die offizielle Stellungnahme der SED zum Massaker am Tiananmen-Platz in Peking zu verlesen, weil sie ihm zu agitatorisch erschien. Diese Form der Verweigerung gab es so vorher nicht. Deshalb war DT64 insgesamt betrachtet auch nicht rebellisch – sondern ein Sender mit Nischen, der in bestimmten Bereichen mehr Freiheiten hatte als andere Medien.
Pehlemann: Man muss da auch unterscheiden: In popkultureller Hinsicht war der Sender schon auch vorher subversiv[3], aber in politischer Hinsicht eben nicht. Es war zum Beispiel auch verboten, Songs von DDR-Bands zu spielen, die sich mit dem Thema des Rechtsradikalismus in der eigenen Gesellschaft auseinandersetzten – einfach deshalb, weil die offizielle Doktrin war: In der DDR gibt es keine faschistischen Tendenzen mehr. Songs von BRD-Bands, die sich mit dem Neonazismus im Westen auseinandersetzten, durften hingegen schon gespielt werden – absurd!
Im August 1989 sind Sie, Frau Brasch, aus der SED ausgetreten. Hatten Sie damals keine Befürchtungen, dass das berufliche Konsequenzen haben könnte?
Brasch: Nein, denn die SED musste sich zu dem Zeitpunkt schon um ganz andere, viele größere Zusammenhänge kümmern als um den Parteiaustritt der kleinen Brasch. Ich bin vor allem wegen des Umgangs der SED mit besagtem Tiananmen-Massaker ausgetreten. Da habe ich mir gesagt: Das will ich nicht mehr mittragen.
Nach der Wende haben Sie dann mit ihren Kolleg*innen für den Erhalt des Senders gekämpft. Warum? Sie hätten sich ja zum Beispiel auch einfach eine neue Stelle in den alten Bundesländern suchen können.
Brasch: Das hatte zwei Gründe. Zum einen habe ich die Arbeit und das Umfeld dort geliebt – es war wie ein Zuhause für mich. Zum anderen fühlte ich mich aber auch verpflichtet: gegenüber den Hörern und jenen, die für uns auf die Straße gegangen sind. Und es war eben klar: Wenn der Sender einmal weg ist, dann wird er auch nicht mehr wiederkommen.
1993 ist DT64 dann in den Sender MDR Sputnik übergegangen. Konnte man dort nachhaltige Spuren hinterlassen?
Pehlemann: Nicht mehr lange. Das war dann ganz schnell ein anderes Programm. Es wurden zwar einzelne Sendungen übernommen – aber der Spirit insgesamt war doch ein völlig anderer. MDR Sputnik wurde schrittweise zu einem langweiligen Mainstream-Sender unter vielen – das unterschied ihn von DT64.
Heiko Hilker, Alexander Pehlemann, Andreas Ulrich, Jörg Wagner (Hg.): Power von der Eastside! Jugendradio DT64 – Massenmedium und Massenbewegung. Ventil-Verlag, 384 S., br., 28 €.