Mehrere Interessenverbände hatten es bereits gemeldet, nun ist es amtlich: Das Auswärtige Amt erschwert durch eine Veränderung in der Praxis der Terminvergabe bei deutschen Visastellen den Nachzug für Flüchtlingsfamilien. Bisher erhielten Angehörige von minderjährigen subsidiär Schutzberechtigten, die kurz vor ihrem 18. Geburtstag standen, regelmäßig Sondertermine, um noch vor deren Volljährigkeit als Bezugsperson nach Deutschland einreisen zu können. Seit einigen Wochen werden entsprechende Bitten um Termine jedoch abgelehnt – bewusst und gezielt, wie das Auswärtige Amt der Linke-Abgeordneten Clara Bünger erst nach einigem Hin und Her erklärte.
Nur bis zur Volljährigkeit haben Personen mit subsidiärem Schutz ein Recht auf den Nachzug ihrer Eltern. Damit soll das Kindeswohl unbegleiteter Minderjähriger geschützt werden, die auch kurz vor Erreichen der Volljährigkeit auf den Beistand ihrer Familienangehörigen angewiesen sind. Gelingt es den Eltern und Geschwistern nicht, vor dem 18. Geburtstag der Bezugsperson nach Deutschland einzureisen, verlieren sie ihren Anspruch auf Familiennachzug.
Mit Weisung vom 6. November wurden die Auslandsvertretungen angewiesen, grundsätzlich keine Sondertermine mehr zur Antragstellung für den Nachzug zu vergeben, wenn hinsichtlich des betroffenen Kindes »der einzig dafür vorgebrachte Grund das baldige Erreichen der Volljährigkeit ist«. Eigentlich sollte mit der Sonderregelung sichergestellt werden, dass der Nachzug in Fällen ermöglicht wird, in denen humanitäre Gründe »in besonderem Maße vorliegen«. Dies soll nun offenbar nur noch bei unter 14-Jährigen gelten.
Insgesamt leben derzeit rund 326 000 Personen[1] mit subsidiärem Schutz in Deutschland. Sie haben uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt, Anspruch auf einen Integrationskurs und Sozialleistungen. Die meisten subsidiär schutzberechtigten Personen stammen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak.
Die Bundesregierung beruft sich bei ihrer Antwort auf die Anfrage von Bünger auf das 2018 beschlossene[2] Gesetz zur Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten. Mit einer jährlichen Kontingentierung macht es den Familiennachzug zum »Glücksrad«, wie Pro Asyl damals kommentierte[3]. Jedoch sieht auch das Aufenthaltsgesetz vor, dass »aus humanitären Gründen« der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen eines Kontingents von bis zu 1000 Visa pro Monat erlaubt werden kann. Als Beispiel, wann humanitäre Gründe vorliegen, heißt es darin, wenn »ein minderjähriges Kind betroffen ist«.
Erschwerend kommt bei der Neuregelung hinzu, dass die deutsche Visastelle in Beirut aufgrund des Krieges derzeit geschlossen ist. Über diese Behörde muss jedoch ein Großteil der Familien von in Deutschland lebenden Syrer*innen die Familiennachzugsvisa beantragen.
Bünger fragt sich, ob der Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) die Änderung der langjährig geübten Praxis bekannt ist und wenn ja, wie das mit dem Koalitionsvertrag vereinbar sei, der eine Gleichstellung von subsidiär Geschützten mit Asylsuchenden oder Flüchtlingen gemäß der Genfer Konvention beim Familiennachzug vorsieht. »Eine Unterrichtung der Bundesministerin des Auswärtigen geschah nicht«, heißt es dazu in der Antwort des Ministeriums, dessen Apparat beim Familiennachzug offenbar ein Eigenleben führt.
»Ich weiß nicht, was schlimmer ist: dass das Auswärtige Amt Flüchtlingsfamilien bewusst dauerhaft trennt und die Außenministerin darüber nicht informiert – oder dass die Ministerin von der geänderten Praxis weiß und das menschenfeindliche Treiben ihres Ministeriums nicht unterbindet«, sagt Bünger dazu »nd«. Unerträglich sei auch, dass die Möglichkeit des Familiennachzugs in vielen Fällen nur deshalb erlösche, weil es zum Teil jahrelange Wartelisten auf einen Termin zur Beantragung eines Visums gebe. »Die Langsamkeit der deutschen Bürokratie zerstört das Menschenrecht auf Familienleben«, erklärt Bünger.