Ich war ein schüchterner Junge, dem schon sehr früh eine Brille verpasst werden musste, um eine Sehschwäche zu korrigieren. Ich hasste diese Brille, weil mit ihr der demütigende Spitzname Brillenschlange einherging und sie mich früh ins Lager der Verlierer verwies. Da ich in meinen ersten Lebensjahren zudem sehr schmächtig war und mich bloß die kleinen Mädchen im Kindergarten in ihre Tanzgruppe aufnahmen, konnte ich dieses Manko nur durch irrationale Wutausbrüche ausgleichen, die mich meist bei der Verweigerung des ekligen Mittagsgemüses befielen.
Als ich zur Strafe im Kindergarten mit dem Gesicht zur Wand stehen musste, während die anderen Kinder leckeren Pudding aßen, erfüllte Stolz mein kleines Thüringerherz. Die anderen schleckten eifrig ihren Pudding, schauten mich aber mit heimlicher Achtung und Respekt an, weil ich den kratzbürstigen Kindergärtnerinnen Weimars, die ihr Handwerk noch unter den Nazis gelernt hatten, ab und zu das Leben schwer machte.
Auf dem Spielplatz spielte ich in der Jungsgruppe noch eine untergeordnete Rolle, weil ich nicht kicken konnte. Ich hatte Angst, mir würde die Brille bei einem Schuss auf meinen Kopf für immer in die Augen gedrückt werden. Ich hatte in meinen russischen Science-Fiction-Büchern gelesen, dass es derart verunstaltete Außerirdische auf dem Planeten Brillo geben würde. Dieses Schicksal wollte ich mir ersparen. Der Planet Brillo und seine Bewohner, was für ein Albtraum.
Im Sommer 1970 wurden alle Gesetze außer Kraft gesetzt, als Denis in unser Viertel zog. Ich spürte sogleich eine tiefe Zuneigung und wollte unbedingt sein Freund werden. Doch dafür musste ich Fußball spielen lernen. Denis bolzte seit ein paar Monaten in der Knabenmannschaft von Motor Weimar und verbrachte jede freie Minute in seinen Fußballschuhen. Sein wirres Haar stand ihm wild in alle Richtungen, wenn er den Ball berückte, liebkoste, ihn zu beherrschen lernte. Blitzartig wurde mir klar: Um Denis bester Freund zu werden, musste ich Fußballer werden.
Ich übte hinterm Haus jeden Tag mit meinem Vater, entwickelte im Sportunterricht Ehrgeiz, ignorierte meine Brille und merkte, wie Körper und Geist sich in das göttliche Spiel verliebten. Nach ein paar Monaten war ich reif und kickte fortan mit den Jungs in der Schule und auf dem Spielplatz. Denis wurde mein bester Freund, als mich mein Vater in der Knabenmannschaft von Motor Weimar anmeldete. Der Trainer guckte anfänglich skeptisch, als ich mit Brille auftauchte, doch mein berserkerhaftes Spiel und ein Geschenk meines Papas – eine Flasche Zinnaer Klosterbruder aus dem VEB Edelbrände und Spirituosen Luckenwalde, 0,7 Liter, 35 Prozent, für EVP 11,90 Mark der DDR – änderten die Lage.
In der ersten Nacht als Fußballjunge wuchs ich drei Zentimeter und wie durch ein Fußballwunder verbesserte sich meine Sehstärke auf dem rechten Auge, sodass ich ab der zweiten Klasse im Unterricht auf die schreckliche Brille verzichten konnte. Ab diesem Moment gehörte ich dazu, jedenfalls empfand ich das als Kind so und betete jede Nacht vorm Einschlafen zu meinen Fußballschuhen, dass es so bleiben möge.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188061.ballhaus-ost-fussballjunge-vom-planeten-brillo.html