In ihrem Ausblick auf das kommende Jahr zeichnen die Ökonom*innen des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) ein düsteres Bild: »Die Herausforderungen sind ernst«, unterstrich der wissenschaftliche Direktor des IMK, Sebastian Dullien, bei der Vorstellung des Berichts am Mittwoch. Wenn sich nichts ändert, drohe die Deindustrialisierung in Deutschland sich zu verfestigen. Nach Jahren der Stagnation prognostizieren die Wissenschaftler*innen auch für 2025 eine Wirtschaftsflaute: Das Wachstum soll 0,1 Prozent nicht übersteigen.
Ursache für die Flaute seien weniger strukturelle Probleme wie zu hohe Sozialausgaben oder Lohnstückkosten. Vielmehr stoße das Exportmodell deutscher Industriebetriebe aufgrund zunehmender geopolitischer Spannungen an seine Grenzen, stellen die Ökonom*innen des IMK in ihrer Prognose fest. »Deutschlands Wirtschaft leidet unter der Verschiebung von geopolitischen Rahmenbedingungen«, erklärt Dullien. Vor allem der Konflikt zwischen den USA und China[1] belaste die Unternehmen.
So habe die Regierung der Volksrepublik mit ihrem Programm »Made in China 2025« erfolgreich einzelne Wirtschaftsbereiche gefördert. Dazu zählen etwa Robotik oder die Batterie-Herstellung für E-Autos. In den USA hätte die Kombination aus massiven Subventionen im Rahmen des Inflation Reduction Act und Strafzöllen die hiesige Exportwirtschaft unter Druck gesetzt. »Der industriepolitische Gegenwind aus China und den USA ist für Deutschland besonders schmerzhaft, weil die beiden Märkte wichtig waren«, fasst Dullien die Befunde zusammen. Erschwert wurde die Lage für energieintensive Unternehmen durch die Folgen des Energiepreisschocks nach dem russischen Überfall auf die Ukraine.
Mit Blick auf die anhaltende Wirtschaftsflaute, die derzeit besonders die Automobilbranche und die vorgelagerte Zulieferindustrie trifft, bestehe die Hauptaufgabe für die nächste Bundesregierung darin, strategisch wichtige Wirtschaftszweige zu erhalten, heißt es im IMK-Report. Es müsse darum gehen, den Prozess der Deindustrialisierung aufzuhalten, »für den es bereits jetzt erste Anzeichen gibt«, wie Dullien betont.
Der Prozess wäre nur schwer umkehrbar, denn die Entwicklung von global wettbewerbsfähigen und dominanten Industrien sei »pfadabhängig«. Das bedeutet: technologisches Wissen, Infrastruktur und qualifizierte Arbeiter*innen lassen sich nicht im Handumdrehen in andere Produktionszweige verlagern. »Praktisch alle erfolgreichen Unternehmen mit großer Marktmacht sind durch ein Aufbauen auf bereits existierenden lokalen Stärken entstanden und oft direkt oder indirekt staatlich unterstützt worden«, heißt es im Report.
Entscheidend ist hierfür, dass Anreize für zukunftsfähige Investitionen geschaffen werden. Eine besondere Priorität messen die Forscher*innen mit Blick auf die internationalen Verwerfungen einer koordinierten Industriepolitik auf EU-Ebene bei. Die soll Unternehmen in zentralen Zukunfts- und Schlüsselbranchen bei der Transformation zu klimafreundlichen Prozessen unterstützen.
Als Grundlage könne laut Dullien in Teilen der Vorschlag des ehemaligen EZB-Chefs Mario Draghi dienen. Er hatte mit seinem Wettbewerbsbericht im September eine Debatte für eine europäische Wirtschafts- und Industriepolitik angestoßen. Demnach müsse die EU vor allem im Bereich der Energiepreise und -infrastruktur sowie mit Blick auf neue technologische Entwicklungen wie Künstliche Intelligenz und Cloud-Dienste wettbewerbsfähiger werden.
Finanziert werden könnte eine solche Industriepolitik etwa, indem das bereits bestehende »Next Generation EU«-Investitionsprogramm fortgeführt würde, erklärt IMK-Direktor Dullien auf nd-Nachfrage. Der Milliarden-Fonds wurde 2021 aus der Taufe gehoben, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie abzufedern und gleichzeitig den Übergang zu einem grünen und digitalen Kapitalismus zu fördern. Das bis dahin einmalige Paket hatte ein Gesamtvolumen von 806,9 Milliarden Euro und läuft 2026 aus.
Eine solche Koordination auf europäischer Ebene sei notwendig, »damit nicht jedes Land sich seinen Sektor aussucht, den es unterstützen will«, erklärt Dullien. »Das funktioniert auf EU-Ebene am besten, weil Unternehmen, die miteinander konkurrieren, dann nicht Subventionen über die Grenzen zu schieben.« Dafür aber müssten verbindliche Kriterien festgelegt werden. Auch könnten etwa der Schutz vor Dumping-Importen in Bereichen wie Batterien, Elektrofahrzeugen oder Stahl koordiniert werden.
Lange Zeit waren industriepolitische Ansätze unter Ökonom*innen umstritten. Insbesondere pauschale Förderungen einzelner Zweige führten laut Kritiker*innen zu Ineffizienzen und begünstigten eine Günstlingswirtschaft. Doch durch den Handelskonflikt zwischen China und den USA hat sich das inzwischen geändert.
Und auch die Forschung hat mittlerweile differenziertere Ansätze entwickelt. »Bei der Industriepolitik muss man eine Balance finden«, erklärt Dullien. Einerseits müssten die richtigen Branchen gefördert werden, etwa solche, die besonders innovativ sind. »Dafür müssen klare Ziele formuliert werden«, betont er. Für die seien inzwischen Kataloge entwickelt worden. Und die Unternehmen dürften sich nicht darauf verlassen, unterstützt zu werden. »Es ist wichtig, dass man die Konkurrenz hochhält.«
Zuletzt hatte die noch amtierende Bundesregierung einen Vorschlag für einen europäischen Industriegipfel unter der Leitung von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gemacht. Der soll einen Rahmen bieten, um über entsprechende Unterstützungsmaßnahmen, etwa für die Automobilbranche[2], zu beraten. Den Vorstoß unterstützt Dullien. Auf die Frage, ob eine solche Industriepolitik schnell genug umgesetzt werden könnte, um die jetzige Krise abzufedern, sagte der IMK-Direktor: »Wenn der politische Wille da ist, ist die EU handlungsfähig. Der jetzigen Kommission würde ich das zutrauen.«
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188076.wirtschaftskrise-die-industriepolitik-ist-zurueck.html