Sie hatten sich vor einem Jahr gegen eine Auslieferung des Antifaschisten Gabriele M. nach Budapest ausgesprochen. Ihm sollte der Prozess wegen Angriffen auf vermeintliche oder tatsächliche Rechtsextremisten gemacht werden. Worauf basierte Ihre Entscheidung?
Die Entscheidung basierte auf zwei Hauptgründen: Erstens sind wir Richter und Staatsanwälte nicht in einem goldenen Käfig oder einer Glaskugel gefangen – wir wissen, was in Europa vor sich geht. Es ist bekannt, dass die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn unter der Regierung Orbán leidet. Zweitens war die Schere zwischen den Vorwürfen gegen Gabriele M. und der angedrohten Strafe einfach viel zu groß. Die Vorwürfe, die auch andere Beschuldigte betreffen, stehen in keinem Verhältnis zu den angedrohten 24 Jahren Haft, die im Europäischen Haftbefehl genannt werden. Eine Platzwunde am Kopf, die in drei Tagen heilt, rechtfertigt keine derartige Strafe. Diese beiden Gründe – Zweifel an der Rechtsstaatlichkeit Ungarns und das fehlende Verhältnis zwischen Tat und Strafe – waren ausschlaggebend.
Im Fall der Ende Juni 2024 ausgelieferten Maja T[1]. hat das Berliner Kammergericht erklärt, Garantien aus Ungarn erhalten zu haben, dass die Justiz und das Gefängniswesen im Land rechtsstaatlich einwandfrei arbeiten würden. Was ließ Sie daran zweifeln?
Die Entscheidung des Berliner Kammergerichts halte ich für juristisch mangelhaft. Sie ist oberflächlich und unzureichend begründet. Es wurden bloße Behauptungen aufgestellt, die genauso gut widerlegt werden könnten. Es ist eine Frechheit, ein Urteil auf diese Weise zu fällen und damit über das Leben einer Person hinwegzugehen, so als habe man sich nur eines Problems entledigen wollen – womöglich unter politischem Druck. Das Urteil ist grottenschlecht.
Was genau finden Sie daran oberflächlich?
Die Begründung ist oberflächlich und unfundiert. Es fehlt an einer soliden Argumentation. Das Urteil zeigt, dass die Rechte von Maja T. nicht ernst genommen wurden. Man ist rücksichtslos über sie hinweggegangen.
Wie beurteilen Sie das Vorgehen deutscher Behörden bei der Überstellung an Ungarn? Es wirkt, als habe man Maja T.s Recht auf Widerspruch [2]gegen die Auslieferung untergraben und stattdessen Fakten schaffen wollen.
Das Vorgehen der Behörden ist gravierend. Es zeigt, dass im Wettlauf zwischen Recht und Staatsmacht die Staatsmacht gewonnen hat. Das Recht wurde in den Hintergrund gedrängt. Und ich denke, dass Recht und Gerechtigkeit einen höheren Stellenwert haben sollten als die Staatsgewalt.
15 Monate war die Italienerin Ilaria Salis in ungarischer Haft. Sie hatte über unhaltbare Zustände dort berichtet. Hatte dies Ihre Entscheidung beeinflusst, Gabriele M. nicht auszuliefern?
Nein, diese Informationen lagen mir zum Zeitpunkt meiner Entscheidung noch nicht vor. Als ich meinen Antrag im Fall M. dem Oberlandesgericht Mailand vorgetragen habe, wusste ich nichts von Salis. Die Entscheidung war also vollkommen unabhängig von ihrer Geschichte. Kurz nachdem ich den Europäischen Haftbefehl gelesen hatte, hatte ich eine klare Meinung dazu: M. darf nicht an die ungarischen Behörden ausgeliefert werden. Die Haftbedingungen von Salis, Maja und so weiter kamen erst später ans Licht.
Was wussten Sie vorher über die Haftbedingungen in Ungarn?
Eigentlich nichts Konkretes. Allerdings finde ich nicht, dass Haftbedingungen [3]das zentrale Thema sind. Gefängnisse sind grundsätzlich Orte der Gewalt, unabhängig vom Land. Es gibt bessere und schlechtere Haftbedingungen, aber gute Gefängnisse habe ich noch nie gesehen. Wenn ein Staat andere Staaten aufgrund mangelnder Haftbedingungen kritisiert, muss er selbst bessere Standards bieten. In Ungarn ist es wie in Deutschland und Italien auch, es gibt sowohl bessere als auch schlechtere Haftanstalten, aber gute Gefängnisse gibt es einfach nicht und ich habe viele Gefängnisse gesehen.
Wie bewerten Sie die Tatsache, dass Deutschland seine Staatsbürger an Ungarn ausliefert, obwohl Zweifel an der dortigen Rechtsstaatlichkeit bestehen?
In einem idealen System des Europäischen Haftbefehls wäre das unproblematisch. Es wäre eine normale Praxis innerhalb eines gemeinsamen Rechtssystems. Allerdings funktioniert dieses System nur, wenn sich alle Beteiligten an die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit halten. Genau das bezweifle ich im Fall Ungarns.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188143.antifaschismus-grottenschlechtes-urteil.html