Sie waren in Deutschland die ersten, die öffentlich machten, was sie durch Mitarbeiter der katholischen Kirche erlitten hatten: schwerste Gewalt und Sexualverbrechen. Im Januar 2010 wandten sich drei ehemalige Schüler des Berliner Canisius-Kollegs[1] an den damaligen Rektor der Einrichtung, Klaus Mertes, berichteten ihm von ihrem Martyrium und benannten Täter.
Mertes war jemand, der nicht versuchte, die Sache unter den Tisch zu kehren[2], wie es viele andere Verantwortliche in der Katholischen Kirche jahrzehntelang getan hatten, unter ihnen Joseph Ratzinger[3], der ehemalige Papst Benedikt XVI., und der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki[4].
Der Rektor schrieb am 14. Januar 2010 einen Brief an mehr als 600 Personen, die in den 1970er und 1980er Jahren Schüler des Jesuitengymnasiums waren und bat sie, von eigenen Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt zu berichten. Er wolle damit dazu beitragen, »dass das Schweigen gebrochen wird«. Ende Januar 2010 erschien in in der »Berliner Morgenpost« der erste Bericht darüber.
Viele weitere über Vorfälle an anderen, auch evangelischen und weltlichen Einrichtungen, folgten. Die ehemaligen Canisius-Schüler hatten also die Aufarbeitung eines Skandals ins Rollen gebracht, der vor allem dadurch einer war, dass Vorgesetzte in großem Stil die Verbrechen vertuschten und den wenigen Opfern, die sich ihnen in der Hoffnung auf Hilfe anvertrauten, nicht glaubten oder nichts unternahmen.
Matthias Katsch[5] ist einer der drei Ex-Schüler, die sich an Mertes gewandt hatten. Seit Langem ist er Sprecher der Betroffeneninitiative Eckiger Tisch. Am Dienstag zog er in der Bundespressekonferenz zusammen mit Mertes und Astrid Mayer vom Aktionsbündnis der Betroffeneninitiativen Bilanz von 15 Jahren Aufarbeitung. Sie fiel erwartungsgemäß niederschmetternd aus. »Die Aufklärung und Aufarbeitung dieses katholischen Missbrauchsskandals in Deutschland muss aus Sicht vieler Betroffener als gescheitert angesehen werden«, erklärte Katsch. »Man hat uns, die Opfer, mit der Täterorganisation weitgehend alleingelassen.« Er appellierte an den Bundestag, sich für die Betroffenen einzusetzen, beispielsweise für einen Entschädigungsfonds und eine Aufarbeitung, die nicht mehr in Eigenverantwortung der Kirche erfolgt.
»Man hat uns, die Opfer, mit der Täterorganisation weitgehend allein gelassen.«
Matthias Katsch Betroffeneninitiative Eckiger Tisch
2018 legte die katholische Kirche dann die sogenannte MHG-Studie vor. Die beauftragten Wissenschaftler konnten 1670 Tatverdächtige und 3677 Opfer ermitteln. Experten waren sich einig, dass das nur die Spitze des Eisbergs und die Dunkelziffer deutlich höher sein dürfte. »In der Folge wäre es geboten gewesen, die konkreten Fälle aufzuklären und dafür auf Bistumsebene und bei den Ordensgemeinschaften in allen vorhandenen Akten zu recherchieren sowie die Ergebnisse dieser Untersuchungen öffentlich zu machen. Nichts von dem ist geschehen«, so Katsch.
Stattdessen sei es den einzelnen Bischöfen überlassen, Studien in Auftrag zu geben, ohne dass es dafür verbindliche Standards gebe. »Diese Art von ›Aufarbeitung‹ ist für die Betroffenen weitgehend nutzlos. Sie erfahren nichts über ihren Täter, nichts über ihren Tatort, über weitere Betroffene.« Bis heute gebe es keine Auseinandersetzung mit der »Gewaltgeschichte in den Einrichtungen, in denen die Täter ihr Unwesen treiben konnten«.
Zudem habe kein einziges Verfahren bei einer deutschen Staatsanwaltschaft zu »irgendeinem Ergebnis geführt«, rügt Katsch. »Kein einziger Bischof oder Ordensoberer musste sich verantworten.« Für die Betroffenen sei das fatal. Viele von ihnen seien »müde und verzweifelt nach vielen Jahren des Hoffens, des Kämpfens um Aufklärung und für eine angemessene Entschädigung«.
Nach Angaben von Katsch haben die katholischen Institutionen in den vergangenen 15 Jahren bei der großen Masse der Anträge aber lediglich »Anerkennungsleistungen« zwischen 5000 und 12 000 Euro ausgezahlt. Das sei »erbärmlich«. Aus Sicht seiner Initiative stünden jedem Opfer mindestens 40 000 Euro zu.
Klaus Mertes würdigte den Mut der ehemaligen Schüler*innen des Canisius-Kollegs und ihren Beitrag zur Enthüllung der Taten von Mitarbeitern. Doch das Verfahren, in dem die Kirche auf Antrag sogenannte Anerkennungszahlungen an die Betroffenen ausreicht, habe nichts mit einer angemessenen Entschädigung zu tun, monierte er: »Die Zahlungen fallen oft niedrig aus, und das Verfahren allein ist für viele Betroffene retraumatisierend.« Zugleich behindere die Kirche die Erhöhung der Anerkennungsleistungen durch Urteile von zivilrechtlichen Schmerzensgeldprozessen aktiv, indem sie sich immer wieder auf die Einrede der Verjährung berufe. Gegen die Nutzung dieser Einrede hatte der Eckige Tisch im Oktober eine Petition an die Deutsche Bischofskonferenz gestartet, die bislang 83 700 Menschen unterzeichnet haben.
Astrid Mayer beklagte, die Diözesen missachteten ungestraft »die Vereinbarungen der Deutschen Bischofskonferenz mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung«. Und der Staat setze die Einhaltung der Regeln nicht durch. »15 Jahre lang Bewusstsein schaffen, war harte Arbeit. Für Gerechtigkeit sorgen können wir nicht auch noch selbst«, sagte Mayer. Auch sie forderte den Bundestag auf, aktiv zu werden, sollten die Bischöfe weiter nicht auf das Instrument der Einrede zur Verjährung verzichten und eine »echte Entschädigungslösung« blockieren. Das Parlament müsse dann »eine vorübergehende Aussetzung der zivilrechtlichen Verjährung in Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch beschließen«. Ein Schreiben mit dieser Forderung hat der Eckige Tisch vor Weihnachten an alle Abgeordneten geschickt.
Mayer verwies auf eine Dunkelfeldstudie des Psychiaters Jörg Fegert, der zufolge »mindestens 114 000 Betroffene allein in der katholischen Kirche mächtigen und angesehenen Männern ausgeliefert waren«. Einen Antrag auf Entschädigung hätten bislang nur wenige Tausend gestellt, was deutlich mache, dass der Schritt viele Betroffene überfordere.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188227.jahre-missbrauchsskandal-bischoefe-spielen-auf-zeit.html