nd-aktuell.de / 16.01.2025 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 1

Chemie-Gewerkschaft für den Standort

IGBCE will Krise mit umfassender Industriepolitik und interner Umstrukturierung begegnen

David Bieber
Für die Entwicklung von Chemieparks wie hier in Marl, will die IGBCE das Kartellrecht ändern.
Für die Entwicklung von Chemieparks wie hier in Marl, will die IGBCE das Kartellrecht ändern.

»Wer in Deutschland die Industrie aufgibt, schwächt Europas Leistungsfähigkeit und macht den Kontinent zum Spielball austauschbarer Dienstleistungen für andere Weltregionen.« Mit diesen pathetischen Worten fordert die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie (IGBCE) vor den vorgezogenen Bundestagswahlen eine umfassende Industriepolitik[1], um Unternehmen und Arbeitsplätze zu sichern.

In ihren jüngst veröffentlichten »Leitlinien für eine zukunftsfähige soziale Marktwirtschaft« fordert die Gewerkschaft umfassende Maßnahmen, um den Herausforderungen der energieintensiven Industrie[2] zu begegnen. Die stehe nicht zuletzt seit dem Energiepreisschock infolge des russischen Krieges gegen die Ukraine unter Druck.

Klimapolitik als Standorthindernis?

Um gegenzusteuern, müssten Unternehmen bei Strompreisen und Klimapolitik entlastet werden, heißt es in dem Papier. Flankieren solle dies ein umfassendes Konjunkturprogramm, das auch eine europäische Dimension aufweist. »Eine neue Bundesregierung muss zusätzliche Impulse für Investitionen setzen«, betont die IGBCE. Die Schwächen des Standorts verhinderten, »dass unser Land mit dem gewohnten Muster aus dieser Krise kommt«.

Im Einklang mit dem DGB schlägt die Gewerkschaft eine befristete Investitionszulage oder zusätzliche Abschreibungsmöglichkeiten für das hiesige Industriekapital vor. Wirtschaftsminister Robert Habeck und Bundeskanzler Olaf Scholz haben eine staatliche Investitionsprämie von zehn Prozent für Neuinvestitionen in Aussicht gestellt, doch fehlt ihnen derzeit die Mehrheit im Bundestag.

Abweichend von den DGB-Positionen kritisiert die IGBCE die hohe Steuerbelastung der Unternehmen. CO2-Bepreisung sowie Abgaben auf Energie erhöhten die Produktionskosten und minderten die Wettbewerbsfähigkeit. Nötig sei eine Neuausrichtung der Transformationspolitik, die zwar durch Anreize den Umstieg zur Klimaneutralität[3] ermögliche, aber »maximal pragmatisch und erfolgsorientiert« sei. Notfalls müssten die Ziele angepasst werden, auch mit Blick auf die Verkehrspolitik und den Wohnungsbau.

Neben Lockerungen im Kartellrecht, etwa für die Entwicklung von Chemieparks, sei auch eine Raffineriestrategie nötig. Diese müsse staatliche Beteiligungen sowie vorgeschriebene Produktionsquoten und langfristige Versorgungsaufträge ermöglichen. Nur so ließen sich Engpässe und die »gefährliche, wachsende Abhängigkeit von importierten Raffinerieprodukten« vermeiden, betont die IGBCE.

Mit »Local-Content-Strategien«, die eine bestimmte Fertigungsquote in Deutschland und Europa vorschreiben, sollen Unternehmen vor unfairem internationalem Wettbewerb geschützt werden. Dabei könnten Recyclingquoten für treibhausgasneutrale Produkte helfen. Und es bedürfe eines vollständigen Batterie- und Elektroschrottrecyclings, das durch eine »staatliche Abnahmegarantie von so gewonnenen seltenen Erden« gestützt wird.

Chemielabor Nordrhein-Westfalen

Von den Unternehmen, die von einer solchen Standortpolitik profitieren könnten, nennt die Gewerkschaft in ihrem Papier konkret die Konzerne Lyondell Basell, Covestro und Saint Gobain. Alle drei haben Standorte in Nordrhein-Westfalen, wo rund ein Drittel der Branchenumsätze in Deutschland erwirtschaftet wird und etwa 100 000 Personen arbeiten, ein Viertel aller Beschäftigten in dem Zweig.

Um ihre Schlagkraft zu verstärken, plant die Gewerkschaft für NRW eine interne Umstrukturierung. Ab 2026 sollen die Bezirke Nordrhein und Westfalen zu einem Landesbezirk verschmelzen. »Mit der Zusammenlegung stärken wir den Einfluss der IGBCE in ihrer Hochburg NRW«, erklärt der Gewerkschaftsvorsitzende Michael Vassiliadis. Der Landesbezirk werde zum Labor für die regionale Gewerkschaftsarbeit der Zukunft.

»Industrien und Branchen werden durch kapitalistische Konkurrenz ständig umgewälzt, und Gewerkschaften müssen darauf strategisch und organisatorisch reagieren«, erklärt der Kasseler Gewerkschaftsforscher Alexander Gallas zu den Plänen gegenüber »nd«. Nach der Fusion wird NRW der mitgliederstärkste der dann sieben Landesbezirke sein. Dort hat die IGBCE rund 170 000 ihrer insgesamt 600 000 Mitglieder.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188076.wirtschaftskrise-die-industriepolitik-ist-zurueck.html?sstr=energieintensive
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1187404.stahlgipfel-scholz-spricht-von-mehr-stuetzen-fuer-die-stahlindustrie.html?sstr=strompreis
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1185152.strukturwandel-klimaneutralitaet-am-industriestandort.html?sstr=energieintensive