Fußballfans haben meist ein gutes Gespür für die Situation ihrer Mannschaft. Auch die Anhänger des 1. FC Union[1]: Selten war es in den letzten Minuten einer Partie und nach dem Abpfiff so ruhig in der Alten Försterei wie am Mittwochabend. Mit Niederlagen haben die Berliner in der Bundesliga in den vergangenen Monaten durchaus leben gelernt. Das 0:2 gegen den FC Augsburg war mehr als nur ein verlorenes Spiel, die Stille Ausdruck enttäuschter Hoffnung und schmerzlicher Einsicht.
Schon die Geschichte des Gegners erzählt viel über Union[2]. »Endlich«, sagte Augsburgs Trainer Jess Thorup, »haben wir den ersten Auswärtssieg geschafft.« Und zu Recht war der Däne »von der Art und Weise« beeindruckt, wie seine Mannschaft den ersten Dreier dieser Saison in der Fremde erspielt hatte. Nach einer halben Stunde und drei guten Angriffen führten die Gäste durch die Treffer von Alexis Claude-Maurice mit 2:0. Dieses Ergebnis brachte das bis dato zweitschlechteste Auswärtsteam der Liga souverän über die Zeit – und war dabei spielerisch jederzeit überlegen.
Zehn sieglose Spiele in Serie, nach 17 Partien mit nur 14 Toren auf Rang 13: Diese Zahlen zeugen von erschreckender Schwäche, machen den Fans von Union aber keine Angst. In der vergangenen Saison stand es zur Bundesliga-Halbzeit[3] noch schlechter um die Berliner. Erzittern lässt sie die Erkenntnis, dass ein »Fußballgott« auch nur ein Mensch ist. Und verstummen.
Leidenschaftlich laut wurde Steffen Baumgart bei seinem ersten Heimspiel am Mittwochabend als »Fußballgott« begrüßt. Ein Ur-Unioner an der Seitenlinie, im positiven Sinne so ungeschliffen wie viele auf den Rängen selbst. Da glaubten nicht wenige an die kurz vor Jahresfrist mit dem Trainerwechsel vom Verein angekündigte sportliche Trendwende. Daran änderte anscheinend auch die Niederlage am vergangenen Wochenende in Heidenheim[4] nichts. Obwohl mit 0:2 gegen jenes Team verloren wurde, das trotz Unions Sieglosserie zwischen Ende Oktober und Ende Dezember mit nur einem Punktgewinn als einziges noch schlechter war als die Berliner selbst.
Der Wunsch des Vereins nach Veränderung bezog sich vor allem auf die Offensive. Und Horst Heldt will ja da in Heidenheim schon gute Ansätze gesehen haben. Diese Einschätzung von Unions Sportdirektor klang aber mehr als Rechtfertigung für die Entlassung von Bo Svensson[5]. Denn ein wirkungsvoller Angriffsplan war weder am Wochenende noch am Mittwochabend zu erkennen: Vorne steht die Null. Zu beobachten ist hingegen eine Trendwende zum Schlechten. Die zuvor durchaus stabile Defensive der Berliner tritt mit Baumgarts Systemänderung zur Viererkette so indisponiert auf, wie schon lange Zeit nicht mehr gesehen. Im Duell mit Abstiegskandidat Augsburg wirkte Union überfordert, wie ein Absteiger. Auflösungserscheinungen zeigte das Team schon zum Ende der ersten Halbzeit.
Allzu früh sollte nicht geurteilt werden. Doch Baumgart hat nicht die Zeit, die ein neuer Coach braucht. An diesem Sonntag kommen die Mainzer nach Köpenick, danach geht es für Union zum FC St. Pauli. Auch angesichts der wichtigen Spiele zum Jahresauftakt, drei davon gegen direkte Konkurrenten im Abstiegskampf, wurde der Trainerwechsel vollzogen. Viel schlechter als mit zwei derart ernüchternden Niederlagen hätte der Neustart nicht laufen können.
Als das Elend am Mittwochabend kaum mehr zu ertragen war, wandten sich die Fans von allen Akteuren ab, hin zu ihrer großen Leidenschaft, dem Verein: »Fußballclub Union Berlin in Weiß und Rot, wir steh’n zu dir auch in größter Not, Spieler, Trainer kommen und sie geh’n, doch meine Liebe zu dir bleibt besteh’n.« Immer wieder und ungewöhnlich lange wurde dieses Lied gesungen. Es war weniger Anfeuerung, vielmehr die musikalisch formulierte Einsicht, dass Baumgart vielleicht doch nicht der große Hoffnungsträger ist und der Weg noch weiter nach unten führt.
So entschlossen wie an der Seitenlinie, wo Baumgart stets 90 Minuten als Rumpelstilzchen enlangtobt, zeigte sich der Trainer auch nach dem Spiel. Er habe in der Kabine den Abstiegskampf ausgerufen, erzählte er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldet. Überraschender als die keineswegs neue Erkenntnis, dass Union um das Überleben in der Erstklassigkeit spielt, war seine Mitteilung, dass er dafür eigentlich nicht nach Köpenick gekommen ist. Abstiegskampf in der Bundesliga – jahrelang ein Traum und nun wirklich zu wenig? Wer sich hier auch immer überschätzen mag, Verein, Sportdirektor, Trainer, auf das Gespür der Fans ist Verlass.