nd-aktuell.de / 26.01.2025 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 1

Warum Webasto nicht Schule machte

Vor fünf Jahren wurde der erste Covid-19-Fall in Deutschland bestätigt

Kurt Stenger
Als Webasto vor fünf Jahren nach einem Covid-Ausbruch dichtmachte, hielt sich das Medieninteresse in Grenzen.
Als Webasto vor fünf Jahren nach einem Covid-Ausbruch dichtmachte, hielt sich das Medieninteresse in Grenzen.

Stockdorf ist ein 4000-Einwohner-Nest im oberbayerischen Landkreis Starnberg. Schwer vorstellbar, dass hier am Ort einer ehemaligen Außenstelle des Klosters Benediktbeuren ein wichtiger Global Player der Autoindustrie seinen Hauptsitz hat: Webasto, weltweiter Marktführer für Schiebe- und Panoramadächer. Jenseits der Branche bekannt wurde das Unternehmen vor fünf Jahren mit dem ersten Verdachtsfall einer neuartigen Lungenkrankheit[1] in Deutschland, der spätabends am 27. Januar per PCR-Test bestätigt wurde. Bis dato wähnte man Covid-19 noch als Exoten im fernen China[2].

Es ist kein Zufall, dass es in Deutschland zuerst ein Unternehmen traf. Vor allem die internationale Arbeitsteilung lässt die Welt so nahe zusammenrücken, dass sich Infektionen schnell über große Distanzen ausbreiten können. Webasto pflegte enge Kontakte nach China, wo Panoramadächer in Autos besonders begehrt sind. Erst vier Monate vor dem Ausbruch war CEO Holger Engelmann als Mitreisender einer Merkel-Delegation in der Volksrepublik, um zusammen mit der Kanzlerin und chinesischen Vertretern ein neues Werk einzuweihen. Und das in Wuhan – die Millionenstadt gilt als Ort des ersten Sars-CoV-2-Ausbruchs, vermutlich im November 2019.

Eine Kollegin aus der Volksrepublik brachte das Virus zu einer Schulung nach Bayern mit. Dabei steckte sie weitere Mitarbeiter an. Darunter war auch »Patient 1« – ein 33-Jähriger, der außer leichtem Durchfall später keine Symptome hatte. Umso erstaunlicher war die Reaktion der Firmenleitung: Sie informierte unverzüglich das Gesundheitsamt, alle potenziell Betroffenen wurden getestet, und als das erste positive Ergebnis da war, stellte man die Produktion ein und schickte die rund 1200 Mitarbeiter ins noch unübliche Homeoffice. »Zum damaligen Zeitpunkt gab es noch keine Empfehlungen von Behörden oder Wissenschaftlern«, sagt Firmenchef Engelmann im Rückblick. »Wir benötigten schnell eine effektive Maßnahme, und da habe ich gesagt: ›Das machen wir jetzt einfach, wir schließen ab.‹« Dies sei eine Vorsorgemaßnahme gewesen, um die Infektionskette im Unternehmen zu unterbrechen. Da die Behörde bei der Kontaktnachverfolgung überfordert war, telefonierte man teils selbst den Mitarbeitern hinterher.

Ob »Patient 1« wirklich der erste deutsche Covid-19-Fall war, dürfte übrigens nie geklärt werden. Schon gut einen Monat vorher war ein Patient an der Berliner Charité behandelt worden, der typische Symptome hatte, aber nie getestet wurde und später verstarb. Eindeutiger ist, dass das Virus in der EU lange vor dem ersten bestätigten Fall, in Frankreich am 24. Januar, zirkulierte. Dafür sprechen Fallberichte aus diesem Land, zudem Abwasserproben aus Norditalien von Mitte Dezember, in denen Sars-CoV-2-RNA nachgewiesen wurde. Dort konnte wegen wochenlanger Untätigkeit das in China zuvor nicht so stark ansteckende Virus mutieren, sodass es erst Pandemiepotenzial erlangte.

Wichtige frühe Hinweise

Wie dem auch sei: Die Ereignisse bei Webasto lieferten frühzeitig wertvolle Hinweise. So berichteten die Infizierten von Geschmacks- und Geruchsverlust. Auch wurde das Phänomen des Superspreadings deutlich: Eine einzelne Person kann in bestimmtem Umfeld viele anstecken. Insgesamt 16 Mitarbeiter und Angehörige wurden in den Folgetagen positiv getestet. Keiner der meist recht jungen Betroffenen hatte dabei einen schweren Krankheitsverlauf. Auch konnten bei »Patient 1« schon nach drei Monaten keine neutralisierenden Antikörper mehr nachgewiesen werden. Die wohl wichtigste Erkenntnis: Ein Ausbruch lässt sich schnell einfangen, wenn sofort gehandelt wird. Transparenz, schnelle Tests, die Isolierung Infizierter – »Patient 1« verbrachte 19 Tage in einer besonderen Station des Klinikums München-Schwabing – sowie Quarantäne zu Hause für enge Kontaktpersonen ließen die Infektionskette abreißen. Webasto konnte nach gut zwei Wochen wieder öffnen.

Das Vorgehen war übrigens nicht innovativ, wie es in den Medien gerne dargestellt wurde, sondern Standard: Testung, Kontaktnachverfolgung und Isolierung gehören zum kleinen Einmaleins jedes Epidemiologen. Warum das bei späteren Ausbrüchen nicht mehr klappte, ist die eigentlich interessante Frage. Ein Grund sind die kürzungsbedingten Systemmängel im Gesundheitswesen, die offen zutage traten. Die schlecht ausgestatteten Ämter waren überfordert mit schnellen Reaktionen. Auch folgte die Datenerhebung mit großer Verzögerung, und Datenschutzbestimmungen legten weitere Steine in den Weg. Es fehlten umsetzbare Pandemiepläne.

Falsche Reaktionen

Die Bevölkerung reagierte ebenfalls falsch. In Stockdorf und Umgebung kam Panik auf – in Apotheken waren Mund-Nasen-Schutz und Desinfektionsmittel binnen eines Tages ausverkauft. Neugierige belagerten die Häuser Betroffener. Leute mit Webasto-Bezug wurden zu Parias. Der richtige Umgang mit dem Virus wurde mit Misstrauen gedankt. CEO Engelmann beklagte in einem Interview, »dass die Ängste vieler Menschen dazu führen, dass eine ganze Reihe von Mitarbeitern und deren Angehörige ausgegrenzt werden, obwohl sie nicht zur Risikogruppe gehörten«.

Anderswo hielt man das Vorgehen von Webasto für völlig übertrieben. Zu jener Zeit wurde das Risiko noch weitgehend verharmlost. Übrigens auch durch Christian Drosten, das Robert-Koch-Institut und die Weltgesundheitsorganisation, die auf ihren größten Beitragszahler, China, zu viel Rücksicht nahm. Warnrufe anderer Experten wurden ausgeblendet, auch in den Medien. Die Politik in Deutschland wollte keine unpopulären Entscheidungen treffen. Und so wurden Indoor-Feiern zu Superspreading-Events: Après-Ski in Ischgl, ein Starkbierfest in der Oberpfalz und die berühmte Karnevalssitzung im Kreis Heinsberg.

Auch wirtschaftliche Interessen[3] standen der Covid-Bekämpfung in der Frühphase entgegen. Webasto erstellte ein Corona-Handbuch und teilte es mit der gesamten Automobilbranche, obwohl sich darin auch Interna befanden. Hildegard Müller, Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie, dankte dem Unternehmen dafür und behauptete Wochen später: »Die Lernkurve in der Branche war sehr, sehr steil.« Es war aber eher das Gegenteil der Fall: Nach den Erfahrungen bei Webasto wollte niemand mehr einen Covid-Ausbruch an die große Glocke hängen, da dies nur finanzielle Einbrüche und einen massiven Imageschaden bedeutet hätte.

Es ist heute müßig zu fragen, ob Deutschland viel besser durch die Pandemie gekommen wäre, wenn das Beispiel Webasto Schule gemacht hätte. Klar ist, dass die Politik alles zu lange laufen ließ. Und als es dann vielerorts Ausbrüche gab und niemand mehr einen Überblick hatte, war der erste bundesweite Lockdown Mitte März 2020 unausweichlich. Der harte Schnitt und im Gefolge die Rufe nach immer drastischeren Maßnahmen, die sich im Nachhinein teils als überzogen herausstellten, sorgten für eine Spaltung der Gesellschaft. Corona-Leugner und rechte Verschwörungsbehaupter erhielten immer mehr Zulauf. Und so wählt am 23. Februar auch die Covid-Pandemie noch mit.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1147508.corona-pandemie-kein-ende-des-ausnahmezustands-in-sicht.html?sstr=webasto
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188534.corona-pandemie-wie-covid-die-volksrepublik-china-veraendert-hat.html?sstr=corona
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1145685.corona-am-arbeitsplatz-der-hustende-mitarbeiter.html?sstr=webasto