»Wir brauchen nicht immer noch neue Gesetze und Richtlinien, sondern wir müssen uns fragen, wo wir jetzt endlich die Axt ansetzen«, sagt Andrea Lemke deutlich. Die Metapher, die die Pflegedirektorin des Evangelischen Waldkrankenhauses Berlin-Spandau[1] auf dem Podium in Berlin wählt, hat Sinn: Es ist ein wahrer Bürokratie-Dschungel, durch den sich die Pflegekräfte hierzulande täglich kämpfen müssen. Allein in den vergangenen vier Jahren hat das Bundesgesundheitsministerium[2] 238 neue Gesetze, Verordnungen und Richtlinien geschaffen. »Jede dritte Pflegekraft arbeitet im Grunde nur für die Administration«, kritisiert Lemke.
Die Entkopplung der Pflegebeschäftigten von der Politik ist beim diesjährigen »Kongress Pflege« in Berlin fast überall greifbar. Noch-Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ist an diesem Wochenende nicht gekommen. Noch im November hatte er versprochen[3], in seiner Amtszeit alle Forderungen aus der Pflege erfüllen zu wollen. Doch sein Versprechen konnte er nicht halten. Weder wurden die Befugnisse von Pflegekräften erweitert, noch die Ausbildung für Pflegeassistenten vereinheitlicht[4] – um nur zwei Vorhaben zu nennen.
Die Ernüchterung und teilweise auch Resignation bei den anwesenden Pflegebeschäftigten sind mittlerweile groß. Offenbar glaubt fast niemand mehr daran, dass die politisch Verantwortlichen imstande sind, Verbesserungen im Gesundheitswesen herbeizuführen – ob nun mit neuen Gesetzen oder ohne sie. »Schon das Wort ›Bürokratieentlastungsgesetz‹ ist ja ein Widerspruch in sich«, sagt Lemke. Die Erfahrung aller hier Anwesenden zeige, dass jedes neue Gesetz per se immer noch mehr Bürokratie schafft. Und natürlich würde es im Kontext der sogenannten Krankenhausstrukturreform auch wieder viele zusätzliche bürokratische Vorgaben geben.
»Mich erinnert das mittlerweile wirklich genau an die Situation am Ende der DDR«, sagt Lemke aus eigenem Erleben. Ein System, das nur noch systemerhaltend arbeitet, kritisiert sie. Dass im Bundesgesundheitsministerium offensichtlich Kenntnisse über die praktische Arbeit und Organisation im Krankenhaus nicht vorhanden sind, sagen hier viele. Die Verpflichtungen, auf den Stationen zu dokumentieren und Daten zu liefern, seien überbordend. In der Pflege werde im Durchschnitt bis zum 22. August am Patienten und von da an bis zum Jahresende nur noch für die Dokumentation gearbeitet. Angesichts dessen spricht Lemke mehrfach von der »Sinnentleerung der Profession« durch die Politik.
Statt neuer Gesetze müsse ihrer Meinung nach jede bisher in Kraft getretene Regelung dahingehend überprüft werden, ob die Patientenversorgung dadurch besser oder schlechter geworden ist. Bisherige Ansätze reichten da nicht aus. »Lauterbach trägt den Begriff der Qualität in der Pflege nur wie eine Monstranz vor sich her«, kritisiert sie. »Doch auch mit seinen Gesetzesvorhaben wird nicht die Qualität, sondern werden nur sinnlose Strukturen geprüft.« Wenn hingegen in die Bewertung der bestehenden Gesetze die Pflegebeschäftigten stärker eingebunden würden, dann ginge es nach Lemkes Meinung auch wirklich um die Qualität der Pflege und nicht bloß um die Strukturen.
Neben wirklicher Entbürokratisierung verweist auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) mit einem aktuellen Positionspapier auf aktivere Maßnahmen, um den Pflegeberuf attraktiver zu machen. Die DKG kritisiert, dass die fortgesetzte Zentralisierung der Krankenhäuser oft zu längeren Arbeitswegen für die Beschäftigten führt, was zur Folge habe, dass viele den Beruf aufgeben. Praktische Lösungen wären diesbezüglich Shuttle-Angebote und mehr und kostenlose Parkplätze.
Eines der wichtigsten Themen ist nach wie vor die so dringend notwendige Neuverteilung der Kompetenzen innerhalb der Heilberufe. Pflegekräfte dürfen noch immer nicht gleichberechtigt ihre Kernaufgaben ohne zusätzliche Genehmigungen durch Ärzt*innen erbringen. Das nennt die Pflegewissenschaftlerin Martina Hasseler als weiteres Beispiel dafür, »dass Deutschland im Rückschritt stecken geblieben ist. Und man ist auch noch stolz darauf«, fügt sie bitter hinzu. Wie bitter das in der Realität ist, zeigt sich beispielsweise darin, dass Notfallpfleger bisher auch nicht den Tod eines Patienten feststellen dürfen. »Dann wird ein bereits toter Patient – oft in Anwesenheit von Angehörigen – noch solange weiter beatmet, bis ein Arzt oder eine Ärztin eintrifft«, schildert Hasseler.
Deutschland habe eines der teuersten Gesundheitssysteme weltweit, doch was es leistet, sei unterdurchschnittlich. »Es ist wie ein Korsett, das die lebenswichtigen Organe einschnürt und deformiert«, so Hasseler. Sie verweist darauf, dass die Lebenserwartung hierzulande im OECD-Vergleich mit am schlechtesten aussieht, und resümiert: »Solange die Bevölkerung diese Zustände der schlechten Versorgung akzeptiert, wird sich nichts ändern.«
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188540.kongress-pflege-pflege-im-modus-der-selbsterhaltung.html