Über die Avantgarden von gestern nachdenken, das konnte man gut am vergangenen Samstag in Berlin – beim Konzert von Xiu Xiu im Silent Green. Vor gut 20 Jahren war die Band um Mastermind Jamie Stewart aus San José der »heiße Scheiß«, stand sie doch mit dem Album »The Air Force« (2006) auf allen cleveren Listen schlauer Popdetektive. Popmusik aber machen Xiu Xiu seit jeher nur bedingt.
Als »Industrial Music« wird seit vier Dekaden eine diffuse Schnittmenge grenzüberschreitender Künstler bezeichnet, stilistisch und inhaltlich mit Nähe zum Lärm. Man darf die Band hier einordnen. Xiu Xiu flößten dem Industrial das radikale Selbstmitleid ein. »Dear God, I hate myself« heißt eines ihrer bekanntesten Lieder. Während Throbbing Gristle[1] sich in den 70ern mit Grausamkeit beschäftigten, die Einstürzenden Neubauten[2] in den 80ern mit Verfall und Nine Inch Nails in den 90ern mit Perversion, gibt es in den 00er Jahren bei Xiu Xiu nur noch Verzweiflung am Ich: meine Fehler, mein Körper, meine Schuld, mein dunkles Gefängnis. Jamie Stewart hat es geschafft, das weinerlichste Organ auf diesem Erdball auszuspeien. Ein ständiger Nervenzusammenbruch, das ständige Ausgeliefertsein eines misshandelten Kindes bebt in seiner Stimme.
Dieses Therapiehafte überhaupt war vor 20 Jahren ebenso Avantgarde. Eine Generation begann sich in klinische Symptome und abstrakte Identitätsbegriffe einzuordnen. Lehnte Geburtsrechte und -pflichten ab, bis hin zum eigenen Körper und Geist. Selbstermächtigung durch Selbstviktimisierung und Selbstaufopferung für – ja für wen? Sicherlich nicht für irgendeine Gesellschaft. Queerer Nihilismus, dazu als Trost die letzten Ikonen einer Popkultur. Jamie Stewart zum Beispiel verehrt angeblich die Zeichentrickfigur »Butters« aus der Fernsehserie »South Park« ikonisch. Genesis P-Orrdige erfand einst den »Godstar«, das war Brian Jones von den Rolling Stones. Hier besteht der Unterschied: Es ist ein Mensch.
Vergangenes Jahr erschien Xiu Xius aktuelles Album »13" Frank Beltrame Italian Stiletto with Bison Horn Grips«. Auch ein Zerreißer, Berserker und Säusler findet irgendwann sein Rezept. Xiu Xiu klingen hier, wie man es 2024 von ihnen erwartet. Pitchfork und andere Hypemaschinen hören deswegen schon gar nicht mehr hin. Seltsame Synthesizer, Stereoverzerrung, Schreie und Brüche, Puzzlestücke von Popsongs. Es beginnt mit einer fröhlichen Ballade: »I have done almost nothing right/ My entire adult life/ But having dared to touch the fire with you/ Breaks the chain of my being nothing too« (Ich habe fast nichts richtig gemacht/ mein ganzes Erwachsenenleben lang./ Doch dass ich es gewagt habe, das Feuer mit dir zu berühren/ zerreißt auch die Kette, nichts zu sein).
Auf der Bühne sind Xiu Xiu ein Trio. Stewart wird ergänzt von Angela Seo an der Elektronik sowie David Kendrick, ehemals Schlagzeuger von Devo und den Sparks. Eine bemerkenswerte Entscheidung, das Songmaterial, wesentlich geprägt von exzentrischen Produktionskniffen, tatsächlich »live« und weitergehend ohne Loops und Playbacks zu spielen. Stewart jagt seine Gitarre durch Dutzende digitale Effekte, mal klingt sie wie eine Bassgitarre, mal wie ein Gameboy mit Wasserschaden.
David Kendrick trommelt dazu präzise zwischen Krautrock und Freejazz. Angela Seo steuert Subbässe und anämische Vokalkommentare bei. Scheinbar wirre, aber fest durchkomponierte Takt- und Lautstärkeausbrüche fordern jedem Musiker sein Können ab. Hier spielt ein Ensemble der Neuen Musik in höchster Blüte. Andächtig still ist es zwischen den Songs. Steward schreit und heult in großer Stimmbeherrschung, kalkulierte Katharsis und High-Intensity-Workout.
Gut 70 Minuten lang spielen Xiu Xiu im Rahmen des CTM Festival and Platform for Adventurous Music and Art im Kulturareal Silent Green in Ortsteil Wedding. Unabhängig und senatsfinanziert geht es ähnlich wie beim »Pop-Kultur«-Festival in der Hauptstadt um Identitäten und Ausdrücke der globalen geistigen oberen Mittelschicht. Laptop-DJs, Programmierer, Crypto-Bros und Berufsqueere haben sich versammelt, um entweder vielverstehend zu nicken oder auf Nicht-Coca-Cola zu zappeln.
Das Publikum erwartet als Zugabe noch ein Tribute aus dem Soundtrack zur Serie »Twin Peaks«[3] des eben verstorbenen Regisseurs David Lynch. Xiu Xiu hatten die Filmmusik 2016 neu interpretiert. Zugeständnisse ans Publikum aber würden jeglicher Pose der Ernsthaftigkeit ihren Zauber rauben – ein Dank, ein Winken. Zurück bleibt ein intensives, eindrucksvolles Konzert, das einem unwidersprochen technische Achtung abverlangt. So klingt sonst niemand. »Respektabel« aber ist die größte Beleidigung für ein Genie, »einzigartig« ein unverschämter Trost. Zurück bleibt eben auch eine Avantgarde, die gut 20 Jahre alt ist und sich in solchen Konzerten und Festivals ein letztes Mal an ihre Pubertät klammert.