Tatort Justizvollzugsanstalt (JVA) Plötzensee in Charlottenburg. Vivian Kube und Leonard Ihßen haben einen silbernen Aktenkoffer dabei – darin befinden sich 3400 Euro Bargeld. Die Aktivist*innen haben eine Mission: Sie kaufen am Dienstag sechs Gefangene aus der JVA frei, die einsitzen, weil sie die Geldstrafe fürs Schwarzfahren nicht zahlen konnten.
»Fick den Staat«, ruft ein aus der JVA stürmender Mann in Richtung der anwesenden Journalist*innen. Die Aktivist*innen unterbrechen kurz ihr Statement und fahren dann fort: »Eine Gefängnisstrafe wegen Fahrens ohne Ticket ist eine riesige Belastung für die Betroffenen und kostet den Staat jährlich über 120 Millionen Euro«, sagt Ihßen.
Es ist der elfte »Freedom Day«[1], an dem die Aktivist*innen vom »Freiheitsfonds« Gefangene befreien. Über 1200 Menschen haben sie bereits mittels Spendengeldern aus dem Knast geholt und der Justiz damit erhebliche Kosten erspart. Was die Befreiten eint: Sie nutzten mindestens ein Mal ohne gültiges Ticket den öffentlichen Nahverkehr und begingen damit nach Paragraf 265a Strafgesetzbuch eine Straftat. Was sie auch eint: Sie konnten die Geldstrafe nicht zahlen und mussten deshalb ins Gefängnis.
Die Aktivist*innen wollen den Straftatbestand abschaffen, der noch aus Nazi-Zeiten (1935) stammt.[2] Das wollte auch ein entsprechender Gesetzesentwurf der FDP, der am 29. Januar im Rechtsausschuss[3] des Bundestags auf der Tagesordnung hätte stehen sollen – aber in der aktuellen Fassung nicht auftaucht. Laut Aktivistin und Anwältin Vivian Kube hätten sich alle Ampel-Parteien für die Entkriminalisierung ausgesprochen. Woran der Beschluss scheitere, verstehe sie nicht.
Durchschnittlich 18 Euro – so hoch sei der Tagessatz für Menschen, die nach diesem Straftatbestand verurteilt werden, sagen die Aktivist*innen. Die Höhe des Satzes bestimmt das Gericht nach dem Einkommen. Daran zeige sich, wie arm die Betroffenen seien, die dann im Gefängnis landen. Die Aktivist*innen kaufen nur Menschen frei, deren Tagessatz nicht höher als 20 Euro liegt: zum einen, weil sie nur Menschen befreien, die wegen Armut einsitzen, zum anderen, um möglichst viele zu befreien.
Teils liege der Tagessatz bei einem Euro oder wie im Falle von Herrn K. bei 7 Euro zu 217 Tagen. Teils stimmen die Berechnungen der Richter laut den Aktivist*innen nicht: So sei ein wohnungsloser Mann ohne Einkommen zu einem Tagessatz von 40 Euro verurteilt worden. Sie verweisen auf Studien, die belegen, dass 87 Prozent der Bestraften erwerbslos sind und 15 Prozent wohnungslos.
Die Aktivist*innen würden die Betroffenen gern selbst sprechen lassen. Am Dienstag haben sie eine Frau eingeladen, die allerdings krankheitsbedingt absagen musste. Sie ist Bürgergeldbezieherin, hatte Anspruch auf ein Sozialticket, aber zum Zeitpunkt des Schwarzfahrens von der Behörde noch keines ausgestellt bekommen. Auf Instagram[4] sammeln die Aktivist*innen weitere Lebensgeschichten der Verurteilten: Sie erzählen von psychisch Erkrankten, Geflüchteten und behinderten Menschen. Von Menschen, die wegen der Haftstrafe ihre Wohnung verlieren oder deren Kinder in Pflegefamilien landen.
Fast alle Meldungen von Gefangenen, die freigekauft werden könnten, kämen gar nicht von den Gefangenen selbst, sondern von Justizvollzugsbeamten, sagen die Aktivist*innen. Viele sind offenbar wegen der Überfüllung in den Gefängnissen besorgt. Jährlich seien es rund 9000, die im Knast landen, weil sie die Geldstrafe wegen Schwarzfahrens nicht zahlen könnten.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188589.strafrecht-klassenjustiz-das-ticket-aus-dem-knast.html