Sobald die 16-jährige Bethan (Gabrielle Creevy) in der Schule von ihren Eltern erzählt, lügt sie, bis sich die Balken biegen. Die taffe Hauptperson der BBC-Serie »In My Skin« kommt aus einem chaotischen Elternhaus. Ihre Mutter Katrina (Jo Hartley) leidet an einer bipolaren Störung, verhält sich mitunter extrem aggressiv und ist zeitweise in einer geschlossenen Abteilung der Psychiatrie untergebracht. Ihr Vater Dilwyn (Rhodri Meilir) ist ein widerlicher Säufer und brutaler Schläger, der meistens Bier trinkend auf dem Sofa rumhängt und Mutter und Tochter beschimpft. Aber ihren Mitschüler*innen gegenüber versichert Bethan, dass ihre Mutter Personalleiterin sei, sie mit in Ballettaufführungen nehme, und ihr Vater ein etwas zu ordentlicher Beamter, aber sehr liebevoller Dad.
Mit ihren beiden Freund*innen Lydia (Poppy Lee Friar) und dem schwulen Travis (James Wilbraham) hängt sie nach der Schule im Vorort der walisischen Stadt Cardiff regelmäßig rum, trinkt jede Menge Schnaps und macht Unsinn. Auch die engen Freunde wissen nichts von Bethans prekärer Situation zu Hause. Als sie sich dann auch noch in die allseits beliebte Klassenschönheit Poppy (Zadeiah Campbell-Davies) verknallt und mit ihr eine Romanze anfängt, eskaliert die Situation zu Hause. Bethans Mutter wird aus der Klinik entlassen, der Vater kümmert sich aber nicht um sie und wird gewalttätig.
Bethan leistet extrem viel Care-Arbeit, nicht nur in der Familie, und sie kann auch gar nicht aufhören, sich um andere zu kümmern.
Die mit diversen Preisen ausgezeichnete Serie »In My Skin« wurde auf BBC Three bereits 2018 und 2021 ausgestrahlt und läuft jetzt erstmals in Deutschland als »Web only«-Serie in der Arte-Mediathek. Die zwei Staffeln mit jeweils fünf halbstündigen Episoden legen ein unglaublich rasantes Erzähltempo vor und beeindrucken durch ihre pointierten Dialoge.
So schrecklich dieses mitunter rau und direkt inszenierte Sozialdrama um die 16-jährige Bethan ist, die fast allein die familiäre Ausnahmesituation schultern muss und nur hin und wieder Unterstützung von ihrer Großmutter Margie (Di Botcher) erhält, erzählt »In My Skin« diese Geschichte trotzdem mit unglaublich viel Humor und Situationskomik. Und das, ohne sarkastisch, verletzend oder irgendwie ausgrenzend zu sein. Das ist im heutigen Kulturbetrieb leider eine Ausnahme.
Bethan leistet extrem viel Care-Arbeit, nicht nur in der Familie, und sie kann auch gar nicht aufhören, sich um andere zu kümmern. Das geht so weit, dass sie irgendwann ihre eigenen Bedürfnisse völlig aus den Augen verliert. Dabei ist diese Geschichte ungemein empowernd und mitreißend. Auch ihre queere Romanze mit Poppy ist nicht gerade einfach, wobei Bethan sich immer wieder durchkämpft und nicht aufgibt.
Diese rasante Geschichte wird in Staffel zwei mit demselben Tempo fortgeführt, in der es unter anderem um den Übergang in die Universität, eine mögliche Trennung der Eltern und eine neue queere Liebesgeschichte von Bethan geht.
»In My Skin« erzählt viel vom britischen Schulalltag in der kleinstädtischen Provinz mit reichlich pubertärem Sexismus, viel Homophobie und jeder Menge sich idiotisch aufführenden Jungs. Vom Streber bis zum notorischen Unterrichtsstörer ist alles dabei. Es gibt aber auch immer wieder Solidarität unter den Schüler*innen und strenge Lehrer*innen, die sich meist allesamt trotzdem sehr um die Kids aus der Angestellten- und Arbeiterklasse bemühen. Dabei scheint Bethan nichts so sehr zu fürchten wie verständnisvolle Lehrer, die sich in ihr Leben einmischen und ihr das Erfinden toll klingender, erlogener Familiengeschichten nur schwerer machen. Niemand soll wissen, wie es ihr wirklich geht.
Dieses außergewöhnliche Juwel von einer Serie ist bis zur letzten Episode ungemein spannend. Die sozialrealistische Young-Adult-Erzählung handelt von Klassenschranken, queerem Begehren, Care-Arbeit, Generationenkonflikten, dem Bildungssystem und der Sehnsucht nach einem besseren Leben. Aber aus der titelgebenden Haut kommt Bethan einfach nicht raus. Für sie ist das jedoch kein Grund aufzugeben.
Verfügbar in der Arte-Mediathek.