Die Probleme liegen schon länger auf dem Tisch: Die soziale Pflegeversicherung, in die etwa 75 Millionen Menschen einzahlen und mit deren Hilfe aktuell 5,7 Millionen Menschen versorgt werden, besitzt keine stabile Finanzierung auf mittlere Sicht. Wird hier nichts am Prinzip geändert, bedeutet das für die Versicherten, dass die Beitragssätze in immer kürzeren Abständen steigen werden. Das heißt auf der anderen Seite nicht, dass die Versicherungsleistungen ausreichen würden, für das, was Menschen an Unterstützung im Alter brauchen. Im Gegenteil, die Eigenanteile – insbesondere in der stationären Pflege – sind nicht nur jetzt schon zu hoch, sie werden auch absehbar weiter wachsen. Also werden auch immer mehr Heimbewohner auf Hilfe zur Pflege angewiesen sein. Auf diesem Weg steigt die Belastung der Kommunen ebenfalls.
Dabei gibt es Konzepte, wie das Problem aufzulösen wäre. Jetzt hat ein großes Bündnis für eine solidarische Pflegevollversicherung erneut ein Gutachten beauftragt, das Wege aus der Misere zeigt – und verschiedene Szenarien durchrechnet. Das Bündnis umfasst den Paritätischen Gesamtverband, Gewerkschaften, weitere Sozialverbände sowie einen Berufsverband. Die Berechnungen kommen von Heinz Rothgang, Gesundheitsökonom an der Universität Bremen. Rothgang und Kollegen haben schon wiederholt die Finanzierbarkeit einer Bürgervollversicherung in der Pflege[1] geprüft, unter anderem 2021 für die Linksfraktion.
Jetzt haben wir schwarz auf weiß, wie wir die Pflegeversicherung aus der Krise holen und die Explosion der Pflegekosten für Betroffene stoppen.
Joachim Rock Paritätischer Gesamtverband
Das neue Gutachten verweist auf die ursprünglichen Intentionen der 1995 eingeführten Pflegeversicherung[2]. Damals war nicht beabsichtigt, dass es überhaupt eine Eigenbeteiligung an den Pflegekosten geben sollte. Diese Aufwendungen sollten vollständig durch die Pflegeversicherung getragen werden, die Investitionskosten durch die Länder und die Versicherten selbst sollten nur für Unterkunft und Verpflegung aufkommen. Anfangs funktionierte diese Aufteilung noch: 1996 waren für die Pflegestufen 1 und 2 alle pflegebedingten Kosten in der stationären Pflege abgedeckt. Bis auf einige regionale Ausnahmen in Pflegestufe drei waren die Versicherungsleistungen nach oben gedeckelt.
Jedoch stiegen bei gleichbleibenden Versicherungsleistungen die Pflegesätze an. In der Folge wuchsen die Eigenanteile in den Heimen zunächst von 277 Euro im Jahr 1999 auf 602 Euro Ende 2015. Insgesamt lag der Gesamteigenanteil im Bundesdurchschnitt am 1. Januar 2024 bei 2980 Euro. Fast die Hälfte davon, nämlich 1484 Euro im Monat, waren allein für den pflegebedingten Eigenanteil (einschließlich Ausbildungskosten) aufzubringen.
Leistungszuschläge, die je nach Dauer des Heimaufenthalts gewährt wurden, sorgten ab 2022 nur kurz für Entlastung. Seit dem 3. Quartal 2023 liegt der durchschnittliche Gesamteigenanteil wieder bei 2268 Euro und ist seitdem höher als vor Einführung der Zuschläge.
Allein aus der durchaus nötigen Lohnentwicklung in der Pflege ergeben sich laut Rothgang absehbar weiter steigende Eigenanteile[3]. Damit dürfte auch die Sozialhilfequote unter den Heimbewohnern steigen. Insofern trifft schon die Forderung nach einer Vollversicherung, die alle pflegerischen Kosten übernimmt, auf einigen Zuspruch. Der kam zuletzt gerade aus konservativ regierten Ländern wie Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Bayern.
Im Bremer Gutachten sind aber nicht nur die Aufwendungen und Effekte einer solchen Vollversicherung berechnet worden, sondern auch Varianten, in denen zur Finanzierung alle Einkommen aller Bürgerinnen und Bürger herangezogen werden.
Die vom Pflege-Bündnis angestrebte Versicherung schlägt also eine doppelte Lösung vor: Zum einen werden durch die Vollversicherung die Eigenanteile effektiv begrenzt. Zum anderen wird auch der Beitragssatz begrenzt, indem nicht nur alle Einkünfte aus Arbeit, sondern auch Renten, Pensionen, Einkünfte aus Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung berücksichtigt werden, daneben das BaföG und Entnahmen aus Personengesellschaften.
Die Effekte auf den Beitragssatz zeigen sich je nach Szenario unterschiedlich. Teils wurden für die ambulante Versorgung höhere Ausgaben angesetzt als aktuell möglich. In jeder Variante aber halten sich die Steigerungen der Beitragssätze im Rahmen, und wachsen nicht über 1,32 Beitragssatzpunkte. Anders ausgedrückt: Bis zu einem Einkommen unterhalb der derzeitigen Beitragsbemessungsgrenze würde die Vollversicherung zum Beispiel weniger als fünf Euro mehr im Monat kosten. Dafür werden jedoch die pflegebedingten Kosten im Heim und auch Leistungserhöhungen im ambulanten Bereich vollständig übernommen.
Zudem würden die Bürgerversicherungselemente die Pflegeversicherung nachhaltig stabilisieren. Einen Anstieg des Beitragssatzes kann Gesundheitsökonomen Rothgang mittelfristig nicht ausschließen, bis 2060 sollte er jedoch nur um 0,2 Beitragssatzpunkte über dem Status quo liegen.
Bisherige Bundesregierungen haben das Thema ausgesessen, während die Beitragssätze stiegen[4]. Die aktuelle Regierung hat sich nur mögliche Elemente zusammentragen lassen, aber kein Konzept entwickelt. Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes Joachim Rock zeigt sich trotz allem kämpferisch: »Jetzt haben wir schwarz auf weiß, wie wir die Pflegeversicherung aus der Krise holen und die Explosion der Pflegekosten für Betroffene stoppen. Die solidarische Pflegevollversicherung gehört ganz oben auf die To-do-Liste einer neuen Bundesregierung.«