Die Aussage von Brady Corbets und Mona Fastvolds Spielfilm »Der Brutalist« lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Statt in die antisemitischen USA auszuwandern, hätten die Überlebenden des Holocaust nach Israel gehen sollen[1]. Ein Spielfilm kann nichts beweisen, aber doch etwas zeigen. Dieser zeigt an vielen Beispielen, dass die USA in den 50er Jahren ein antisemitisches Land waren, wenn auch die typische Verquickung von Antisemitismus und Antikommunismus ausgespart bleibt. Wie wir aus den Protokollen der McCarthy-Anhörungen wissen, galt damals, wer kommunistisch war, auch als jüdisch und umgekehrt. Das kommt also nicht vor. Vor allem aber, und das fällt mehr ins Gewicht, kommt Israel nicht vor.
Der Film hat 200 Minuten Zeit, seine Geschichte zu erzählen, aber keine einzige spielt in Jerusalem, wohin Zsófia (Raffey Cassidy), die Nichte des Helden, auswandert, weil sie es für ihre »Pflicht« (obligation) hält. Ganz am Ende und in der erzählten Zeit 30 Jahre später taucht sie (dann gespielt von Ariane Labed) noch einmal auf. Sie hat, so will es scheinen, ein gutes Leben in Israel hinter sich, aber wie es gelaufen ist und ob ihr inzwischen berühmter Onkel, ein modernistischer Architekt, in ihrem Land zurechtgekommen wäre, bleibt Stoff für Spekulation.
Aus Heinz Emigholz’ Dokumentation »Bickels Socialism« (2017) über den israelischen Architekten Shmuel (Samuel) Bickels wissen wir, dass in Israel modern gebaut worden ist. Auch die modernistischen Architekten Richard Kauffmann, Shlomo Oren-Weinberg und Arieh Sharon wirkten vor Ort. Die Tradition des Bauhauses, in der der fiktive und von Adrien Brody elegant gespielte »Brutalist« László Tóth stehen soll, hatte in Israel sogar länger Bestand als in Mitteleuropa oder in den USA. Dieser Spur wollten Corbet und Fastvold nicht nachgehen. Auch die Frage, weshalb sich Tóth, ein gläubiger Jude, lieber von reichen Amerikanern misshandeln lässt, als seiner Nichte zu folgen, bleibt offen.
Die erste Freiheit, die der Neuankömmling Tóth in New York in Anspruch nimmt, ist das Bordell, und ein Bordell wird das Land für ihn bleiben – allerdings mit ihm als dem Prostituierten.
In »Der Brutalist« lassen sich noch zwei weitere, sehr viel weniger spezielle Geschichten erkennen: Die eine ist die oft (am besten von Jonas Mekas) erzählte von Einwanderern in den USA, die andere die altbekannte von Genie und Mäzen. Zu diesen beiden Themenfeldern hat der »Brutalist« nichts Originelles beizutragen. Obwohl Tóth und seine nachgeholte Frau (Felicity Jones) und seine Nichte perfekt Englisch sprechen, treffen sie es nicht viel besser als andere Migranten bis in unsere Tage: Man zeigt ihnen, dass sie nicht erwünscht sind, man pfercht sie in Verschlägen ein, man gibt ihnen üble Jobs. Immerhin, auch wenn die Freiheitsstatue schief ins Bild ragt, irgendeine Freiheit dürfen sie wohl erhoffen.
Die erste Freiheit, die der Neuankömmling Tóth in New York in Anspruch nimmt, ist das Bordell, und ein Bordell wird das Land für ihn bleiben – allerdings mit ihm als dem Prostituierten. Denn, und damit beginnt die zweite Geschichte, der Millionär Van Buren, der sich in einem grandiosen Bauwerk, dem Van-Buren-Zentrum, verewigen will, hält seinen hochbegabten Architekten erst für einen Schuhputzer, dann für einen Stricher.
Van Buren wird schön schmierig von dem in Australien lebenden Guy Pearce gegeben. Und wenn er selbst nicht widerlich genug ist, sind es seine albern gemusterten Krawatten. Noch übertroffen in der Schurkenkunst wird er von Joe Alwyn in der Rolle seines unterwürfigen Sohns Harry. Vater wie Sohn sind ausgepichte Rassisten, Antisemiten, Snobs und veritable Vergewaltiger. Ja, Vergewaltiger sind sie, sowohl in der heterosexuellen als auch in der homosexuellen Variante. Man fragt sich allerdings, ob ein Plutokrat auch noch böse sein muss. Genügt es nicht, dass er ein Plutokrat ist? Und wenn er partout böse sein soll, könnte er nicht beispielsweise wie die Diktatorengattin Imelda Marcos 169 Bauarbeiter in flüssigem Beton verrecken lassen, damit das Gebäude (in ihrem Fall das Manila Film Center) bald fertig wird?
Das hätte nahe gelegen, weil der Brutalismus mit Beton baut. Also kurz zum Titel: Der Brutalismus entstand nicht etwa in den USA, sondern Mitte der 50er in Großbritannien und hat mit »brutal« nicht das Geringste zu tun. Vielmehr geht das Wort darauf zurück, dass einer der frühesten Vertreter dieses Architekturstils, Peter Smithson, von seinen Freunden »Brutus« gerufen wurde. (Näheres in Hermann Funke: »Architekturkritiken«, 2022) Schmucklose Bauten aus Beton gab es schon früher. Der Filmtitel ist also ein Wortspiel, denn, so denkt man bis zum Epilog des Films, brutal ist hier einzig der Finanzier und nicht der Künstler.
Der Epilog bringt eine verblüffende Umkehrung (und alle, die den Film anschauen wollen, verabschiede ich an dieser Stelle). Das Van-Buren-Zentrum, das Tóth bauen soll, wird von einem christlichen Kreuz dominiert, das zwei riesige Betonsäulen in den Himmel aufstreben lassen. Das wirkt, trotz der damals noch gewagten Formensprache des Gebäudes, wie ein Kotau vor den neuen Herren. Am Ende deckt aber die Nichte auf, dass die Betonsäulen und überhaupt der ganze brutalistische Stil Erinnerungen László Tóths ans KZ Buchenwald seien. Das ist die einzige interessante Idee, die der Film zu bieten hat, und die erste von zwei Überraschungen. Die zweite ist, dass Corbet und Fastvold ihr Werk Scott Walker, einem der großen Popmusiker des letzten Jahrhunderts, gewidmet haben. Im Film kommt aber kein einziger Song von Walker und nur ein Stück vor, das mehr ist als lauschige Begleitung: »One for You, One for Me« von der italienischen Discogruppe La Bionda begleitet den Epilog. Man kann diesen Titel dann nur mehr als das Motto am Tor von Buchenwald lesen: »Jedem das Seine«.
»Der Brutalist«, Großbritannien, USA, Ungarn 2024. Regie: Brady Corbet; Buch: Brady Corbet und Mona Fastvold. Mit: Adrien Brody, Felicity Jones, Guy Pearce, Joe Alwyn, Raffey Cassidy. 215 Min. Kinostart: 30. Januar.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188622.film-der-brutalist-im-kino-one-for-you-one-for-me.html