»Der Mindestlohn ist eine Erfolgsgeschichte[1]. Trotz der Horrorszenarien, die manche Ökonomen an die Wand malten, wurde er auch kein Job-Killer«, sagte DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell am Mittwoch bei einer Fachtagung zum zehnjährigen Bestehen der gesetzlichen Regelung. Die trat im Januar 2015 in Kraft. »Seit er gilt, ist die Zahl der Arbeitsplätze gestiegen, vor allem die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hat sich gut entwickelt«, resümierte Körzell. Klar sei aber auch, dass der Mindestlohn für die Gewerkschaften nur zweite Wahl ist – hinter dem Abschluss von Tarifverträgen.
Die Tarifbindung aber sinkt seit Jahren kontinuierlich. Weniger als die Hälfte der Beschäftigten arbeitet laut Berechnungen des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts inzwischen in tariflich geregelten Arbeitsverhältnissen. Das bedeutet: Für die meisten Lohnabhängigen in Deutschland werden die Arbeitsbedingungen und Löhne individuell ausgehandelt. Für hoch qualifizierte Beschäftigte wie Programmierer*innen oder Ingenieur*innen ist das weniger ein Problem – aufgrund guter Verhandlungspositionen können sie oftmals gute Verträge aushandeln. Aber im Niedriglohnsektor wie dem Einzelhandel oder der Landwirtschaft wären Tarifregelungen dringend geboten.
Weil die aber fehlen, ist der Mindestlohn für die überwiegend weiblichen und migrantischen Beschäftigten in den Branchen so wichtig, betonte die Soziologin Nicole Mayer-Ahuja von der Universität Göttingen auf der Tagung. Sie forscht zu Prekarisierung und Arbeit in der Klassengesellschaft. Seit der Einführung des Mindestlohns ist der Niedriglohnsektor kleiner geworden, zeigen ihre Studien. Doch es gebe Einschränkungen: »Die Ungleichheit zwischen den Gruppen[2] wurde nicht wesentlich reduziert. Armut trotz Arbeit ist nach wie vor migrantisch und weiblich«, unterstrich Mayer-Ahuja. Auch darum sei es notwendig, den gesetzlichen Mindestlohn weiter zu erhöhen.
Zustimmung dafür kam in einem kurzen Vortrag ebenfalls von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil. Zwischen der Gedenkstunde im Bundestag zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau und der Debatte über die Verschärfung der Migrationspolitik durch die Unionsparteien – mit Unterstützung der AfD – war nicht viel Zeit. In seinem knappen Beitrag lobte Heil das Mindestlohngesetz und unterstrich noch einmal die Position der SPD im Wahlkampf: »Ich gehe davon aus, dass der Weg in Richtung 15 Euro Mindestlohn steht.« Dafür hatte er im Herbst scharfe Kritik von der Kapitalseite einstecken müssen. Bei den Gewerkschaften erntete er Beifall – und musste dann wieder los zum Bundestag.
Doch eine kritische Nachfrage von Moderatorin Anna-Rebekka Helmy musste sich der Minister gefallen lassen: Warum die Ampel-Regierung für die Bemessung der Lohnuntergrenze den Referenzwert von 60 Prozent des Medianlohns nicht gesetzlich festgeschrieben hat? So sieht es die EU-Mindestlohnrichtlinie vor. Im Herbst hatte Heil bekannt gegeben, dass eine rechtliche Anpassung nicht nötig[3] ist. Allerdings ist im Mindestlohngesetz von dem Referenzwert keine Rede. »In der Gesetzesbegründung wird er angeführt«, sagte Heil. Wenn die Mindestlohnkommission das bei der nächsten Entscheidung im Juni berücksichtigt, sei eine Festschreibung im Gesetz nicht nötig, erklärte er.
Eine ungewöhnliche Rechtsauffassung: »Gemeinhin sind Gesetze nicht gefixt, wenn die Möglichkeit besteht, davon abzuweichen«, bemängelte die stellvertretende Verdi-Vorsitzende Andrea Kocsis und unterstrich die Gewerkschaftsforderung nach einer Gesetzesreform. Dass die Mindestlohnkommission die EU-Richtlinie vergangene Woche in ihre Geschäftsordnung aufgenommen hat, begrüßte sie indes. »Das untermauert unsere Argumentationslinie.«
Ob die Formalie etwas ändert, bleibt jedoch abzuwarten. Denn der Verweis auf die EU-Richtlinie ist nur ein Faktor im Rahmen einer »Gesamtabwägung«. Darin sind Abweichungen vorgesehen für den Fall, dass ökonomische Umstände dies erfordern. Absehbar, dass die aktuelle Konjunkturflaute in Deutschland von der Kapitalseite als Argument angeführt werden wird, um den Mindestlohn nur unwesentlich zu erhöhen.
Hinzu kommt die Frage, ob die Richtlinie Bestand hat. Bald könnte sie vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) gekippt werden. Laut eines Rechtsgutachtens von EU-Generalanwalt Nicholas Emiliou hat die EU mit den Vorgaben ihre Kompetenzen überschritten. Er empfahl daher, die Richtlinie für nichtig zu erklären. Oftmals folgen die Richter*innen der Empfehlung des Generalanwalts.
»Es wäre ein klares Signal, wohin die Reise in der EU geht«, teilt dazu die linke EU-Abgeordnete Özlem Alev Demirel auf nd-Anfrage mit. Wir wissen, dass in den Mitgliedstaaten ohnehin eine Welle von Sozialkürzungen bevorsteht.» Noch helfe die Mindestlohnrichtlinie, dagegen zu argumentieren. Doch «sollte der EuGH dem Generalanwalt folgen, ist das auch ein Fingerzeig auf die brutal unsoziale Politik», die in dieser Legislaturperiode drohe. «Dann steht der gesamte soziale Fortschritt in der EU infrage.»
Und in Deutschland würde der Verweis auf die EU-Richtlinie in der Geschäftsordnung der Mindestlohnkommission gegenstandslos. Ob dann doch eine Gesetzesreform nötig wird? «Die Diskussion wird eine politische Debatte sein, die erst dann folgt, wenn die Mindestlohnkommission entschieden hat», sagte Lilian Tschan, Staatssekretärin im Arbeitsministerium. Ob die SPD dann aber noch Regierungsverantwortung trägt, ist ungewiss.