Man nannte es die »Brexit-Omertà«. In den Jahren nach dem EU-Austritt 2020 wurde bald klar, dass sich im nunmehr eigenständigen Großbritannien kaum die erhofften Boomzeiten einstellen würden. Aber Politiker aller großen Parteien waren auffallend zurückhaltend mit ihrer Kritik am Brexit-Entscheid. Die kontroverse, jahrelange Debatte hatte man endlich hinter sich, niemand hatte Lust, sie noch einmal von vorne anzufangen. Insbesondere die EU-Anhänger wollten sich zudem nicht dem Vorwurf aussetzen, man trachte danach, den Volksentscheid von 2016 umzukehren.
Aber dieses selbstauferlegte Schweigegebot hat sich im vergangenen Jahr gelockert. Der Sieg der Labour-Partei im Juli hat einen wichtigen Teil dazu beigetragen: Seit dem Wahltriumph haben die Attacken der Tories und der rechtskonservativen Presse weit weniger Bedrohungspotenzial für die pro-europäischen Parteien.
Bereits zwei Wochen nach seinem Antritt als Premierminister empfing Keir Starmer Vertreter der Europäischen Politischen Gemeinschaft[1], zu der auch die Europäische Union gehört, im englischen Blenheim Palace. Er bekräftigte seine Absicht, einen »Neustart« in den Beziehungen zu wagen und die Kooperation zwischen Europa und Großbritannien zu vertiefen.
Zunächst wird es um eine engere Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen gehen. Mit der Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus ist dies noch dringlicher geworden; die Liberaldemokraten fordern, die britische Wirtschaft »Trump-sicher« zu machen. Nächste Woche wird Starmer nach Brüssel reisen, um sich mit den EU-Regierungschefs zu treffen; die Sicherheitskooperation wird ganz oben auf der Agenda stehen.
Die Labour-Regierung hat zudem signalisiert, dass sie die Handelsbeziehungen wieder vertiefen will. Vor wenigen Tagen hat Finanzministerin Rachel Reeves eingeräumt, dass der Brexit der britischen Wirtschaft geschadet habe, und dass sie versuchen werde, die Handelsbarrieren für kleine Unternehmen abzubauen. Dennoch geht Labour bei der Brexit-Frage überaus vorsichtig vor. Weiterhin schließt die Regierung eine Rückkehr zur Zollunion oder in den Binnenmarkt aus.
Umfragen zeigen indes, dass die Annäherung zwischen der EU und Großbritannien auf die breite Zustimmung der Bevölkerung stößt – auf beiden Seiten des Ärmelkanals. Eine vom Thintank European Council on Foreign Relations in Auftrag gegebene Studie[2] hat im Dezember ergeben, dass eine Mehrheit der Europäerinnen und Europäer eine bessere Beziehung zwischen Großbritannien und Europa begrüßen würden. Britische Wähler sagten, dass sowohl in Wirtschaftsfragen sowie bei der Sicherheit das Verhältnis zu den EU-Ländern höher einzuschätzen sei als jenes zu den USA. »Während sich die britische Regierung und die Europäische Kommission langsam in Richtung einer engeren Zusammenarbeit bewegen, ist ihnen die öffentliche Meinung weit voraus«, schreibt der European Council on Foreign Relations.