Die Tradition endet in Görlitz an einem Wintermorgen im Beisein politischer Prominenz, aber ansonsten unspektakulär. 175 Jahre lang wurden in der Stadt an der Neiße Schienenfahrzeuge gebaut, vor allem Doppelstockwagen. Nun wurde im Beisein von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) der Schlussstrich gezogen – in Form einer »Rahmenvereinbarung über die Übernahme«, mit der das Werk vom französischen Alstom-Konzern an das deutsch-französische Rüstungsunternehmen KNDS übergeht[1]. Dieses will in Görlitz künftig Baugruppen für den Kampfpanzer Leopard 2, den Schützenpanzer Puma und den Radpanzer Boxer fertigen.
Für das Görlitzer Werk setzt sich damit eine Odyssee fort. Nach dem Ende der DDR hatte der Betrieb zunächst zur »Deutschen Waggonbau AG« (DWA) gehört, in dem die Überreste des DDR-Schienenfahrzeugbaus zusammengefasst worden waren. DWA wurde 1998 vom kanadischen Bombardier-Konzern übernommen. Dieser versprach, man wolle sich »langfristig engagieren«. Allerdings konsolidierte der Konzern Aktienkurs und Gewinne stets gnadenlos zulasten der Beschäftigten. 2016 stand das Werk Görlitz kurz vor der Schließung, nur massiver Widerstand von Belegschaft, Gewerkschaften und Kommunalpolitik verhinderte sie. 2021 kam das Unternehmen Alstom, das sich als »neuer Weltmarktführer« für nachhaltige Mobilität empfahl, aber nur Monate später ebenfalls massiven Stellenabbau ankündigte[2] und die Entwicklungsabteilung aus Görlitz an andere Standorte verlagerte. Vier Jahre später zog es sich ganz aus dem Werk zurück.
Die Übergabe an KNDS wurde von den Konzernführungen und der Politik zwar als freudige Nachricht dargestellt. Scholz erklärte, nun beginne »ein neues Kapitel« der Unternehmensgeschichte. Es seien »sehr gute Nachrichten, dass Industriearbeitsplätze erhalten bleiben, obwohl Alstom aus Görlitz weggeht«. Die Unternehmen sprachen von einer »nachhaltigen Perspektive für den Standort und den Großteil der Belegschaft«. Dirk Schulze, Bezirksleiter der IG Metall für Berlin, Brandenburg und Sachsen, zeigte sich erfreut, dass die zeitweise drohende »Schließung des Standortes verhindert werden konnte«.
Allerdings wird bei der Belegschaft weiter abgerüstet. KNDS will 350 bis 400 der zuletzt 700 Mitarbeiter übernehmen. Geprüft wird, ob 75 an anderen Standorten unterkommen. 100 Beschäftigte könnten eine Zukunft in anderen Werken des bisherigen Betreibers bekommen. Unterm Strich sind das 580 Arbeitsplätze. Beim Einstieg von Alstom waren es allerdings 900, zu besten Zeiten in der Ära von Bombardier sogar rund 2000.
»Ich bin sicher, dass wir sehr bald einen weiteren Beschäftigungsaufbau sehen werden.«
Dirk Schulze Bezirksleiter IG Metall
Dass aus dem Waggonbau nun eine Panzerschmiede wird, stößt in der Region teilweise auf Widerstand. Der Übergabetermin wurde von Protesten vor dem Werkstor begleitet. Bei einer Kundgebung des BSW waren auch Transparente von AfD und des Bündnisses Oberlausitz zu sehen, einer Regionalgruppe der rechtsextremen Splitterpartei Freie Sachsen. Der BSW-Landtagsabgeordnete Nico Rudolph äußerte die Befürchtung, dass der Landkreis Görlitz wegen des Rüstungsbetriebs zur militärischen Zielscheibe werden könnte[3]. Daneben hatte auch die Linke zu einer Kundgebung aufgerufen. Deren Kreischef Mirko Schultze warf dem Freistaat vor, konstruktive Vorschläge zur Stärkung des Waggonbaus, darunter zur Errichtung eines Testrings, ignoriert zu haben. Linke-Landeschef Stefan Hartmann rügte in einer Erklärung, die Politik opfere »den so wichtigen Eisenbahnbau im Namen der Kriegstüchtigkeit, und trotzdem fällt knapp die Hälfte der Arbeitsplätze weg«.
Die Gewerkschaft ist derweil froh, dass es am Standort überhaupt weitergeht. Zwar seien in der Belegschaft »nicht alle glücklich über die Umstellung auf eine Fertigung von Wehrtechnik«, räumte IG-Metall-Bezirkschef Schulze ein. »Das kann ich verstehen.« Es blieben aber 350 nach Tarif bezahlte Arbeitsplätze erhalten, und er sei »sicher, dass wir sehr bald einen weiteren Beschäftigungsaufbau sehen werden«. Vorerst zumindest ist das nicht ausgeschlossen. Der neue Eigentümer KNDS hatte für das Jahr 2023 ein Auftragsplus von 130 Prozent gegenüber dem Vorjahr[4] vermeldet.