Zwischen der Bundestagswahl Ende Februar und dem 35. Jahrestag der deutschen Einheit Anfang Oktober wird viel Zeit und Raum sein, um über die immer gleichen Fragen nachzudenken: Wie ticken die Ostdeutschen?[1] Warum sind sie so unzufrieden? Können sie etwa nichts mit der Demokratie anfangen? Und weshalb wählen sie so komisch[2]? Sehr wahrscheinlich werden wieder die bekannten Erklärungsmuster bemüht, denen zufolge einstige DDR-Bürger – diktaturgeschädigt, wie sie sind – mit der Demokratie auch Jahrzehnte später noch fremdeln, Ausländer lieber nicht in ihrer Nähe haben wollen und solche Einstellungen auch noch vererben.
Natürlich hat die Sozialisation in der DDR Spuren hinterlassen[3], im Guten wie im Schlechten. Wer wollte das bezweifeln. Über die Gewichtung darf gestritten werden. Wenn aber jetzt Soziologen der Berliner Humboldt-Universität in einer Studie ein etwas anderes Fazit ziehen als das übliche, dann lässt das aufhorchen. Demnach haben alteingesessene Ostdeutsche zu Demokratie und Migration durchaus unterschiedliche Ansichten – je nachdem, ob sie sich als staatsnah oder als Dissidenten fühlten oder sich der schweigenden Mehrheit zurechneten. Aber die Differenzen sind nicht größer oder sogar kleiner als gegenüber Nachwendegenerationen und Westdeutschen. Das lässt den Schluss zu: Für die politische Stimmung im Osten dürften nach 35 Jahren deutscher Einheit die sozialen und politischen Entwicklungen, Verwerfungen und Enttäuschungen jener Jahre inzwischen wichtiger sein als die Zeit davor.
Darüber lohnt es nachzudenken: Was läuft in der heutigen Gesellschaft schief?[4] Und vor allem: warum? Nicht, um einzelne Schuldige dingfest zu machen, sondern um Verhältnisse zu schaffen, die sozialen Ausgleich, gesellschaftlichen Zusammenhalt und Demokratie stärken. Das hat unter anderem mit der längst nicht überwundenen Ungleichheit zwischen Ost und West zu tun. Doch die ist Teil der sich zuspitzenden sozialen Widersprüche und Ungerechtigkeiten in ganz Deutschland.