»Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können«, lautet eine bekannte Sentenz des deutschen Dichters Jean Paul (1763–1825). Das Zitat ist aufgrund seiner Unverwüstlichkeit und seiner Kalenderspruchqualität besonders bei Journalisten und anderen berufsmäßigen Schwadroneuren beliebt. Und dennoch stimmt es: Eskapismus gelingt am besten, wenn wir uns in jene Gefilde der Nostalgie aufmachen, in denen gefühlt die Welt noch in Ordnung war. Bei vielen ist das die Zeit der Kindheit oder Jugend.
Was dem einen seine Oldie-Show in der Glotze oder seine ins Erwachsenendasein hinübergerettete Modelleisenbahn, ist dem anderen der weihnachtliche Geruch beim Plätzchenbacken oder die auf dem Dachboden gelagerte Barbiepuppe. (Oder, wenn man ein sehr gesegnetes Lebensalter erreicht hat: die schönen Ausflüge mit der Hitlerjugend oder der Wehrmacht.)
So geht es meiner Generation, den nun sich langsam, aber sicher aufs Seniorendasein Vorbereitenden, mit der Ära, in der Helmut Kohl Bundeskanzler war: So nah erscheint sie uns mit ihrer niedlichen »Hauptstadt Bonn«, ihren moosgrünen Wählscheibentelefonen, ihren Schulterpolstern, ihren Altnazis im Bundestag (Dregger, Stücklen, Zimmermann usw.) und ihren Holocaust-Überlebenden, die zugleich Fernsehentertainer waren (Lembke, Rosenthal). Dabei liegt diese Zeit schon 30, 40 Jahre zurück. Eine Zeit, als jeder wusste, was eine Telefonzelle ist, und noch niemand von einer Wortmüllkippe namens »Twitter« belästigt wurde.
Dass der Koloss Kohl seinerzeit jede Krise durch sogenanntes Aussitzen löste, das heißt, durch Warten und entspanntes Nichtstun, erscheint einem aus heutiger Perspektive als besinnlicher, geradezu rührender Führungsstil. Zwar hat man damals nahezu täglich gegen irgendetwas protestiert – gegen Atomkraft, Wiederaufrüstung, die Volkszählung und die »geistig-moralische Wende«, mit der das Gedankengut der Achtundsechziger auf den sogenannten Müllhaufen der Geschichte geworfen werden sollte. Doch kam einem die Zeit des tapsig-unbeholfen, provinziell und behäbig wirkenden Kanzlers, dem man den Spottnamen »Birne« gegeben hatte, bereits um die Jahrtausendwende, als das neue Regierungsduo Schröder/Fischer in seinen Brioni- und Armani-Anzügen die Gewerkschaften demütigte und Jugoslawien bombardierte, vor wie das verlorene Paradies.
Ein weiteres Beispiel: Als vor einigen Jahren ausgerechnet der von vielen als »irgendwie kampfhundartig« (»Süddeutsche Zeitung«) wahrgenommene Olaf Scholz Kanzler wurde – jener »Sprechautomat« (»Tagesspiegel«), der in der Ära Schröder jahrelang seinem Chef die Aktentasche hinterhertrug, ausnahmslos jede rot-grüne Grausamkeit abnickte und über den einer seiner SPD-Kollegen einmal die schöne Bemerkung machte, er sei »hoch fleißig, hoch effizient. Das Problem ist: Er ist kein Mensch« –, bekam man umgehend eine brennende Sehnsucht nach der bleiernen Zeit, in der die »ewige Kanzlerin« Angela Merkel träge vor sich hin regiert hatte.
Noch bevor sie im Jahr 2005 ins Kanzleramt einzog, sagte sie einmal den aus gegenwärtiger Sicht fast so etwas wie Warmherzigkeit andeutenden Satz: »Manche meinen auch, zwei Wochen ohne Reformidee wären auch mal wieder schön.« Sicher: Wie ihre Vorgänger im Bundeskanzleramt exekutierte selbstverständlich auch sie pflichtschuldig das politische Programm der Kapitalfraktion, als deren oberste Angestellte sie fungierte. Und doch erscheint einem die Phase ihrer Regentschaft – im Vergleich zu der von FDP und AfD befeuerten, ignoranten Massenverarmungs- und Elendsverwaltungspolitik des »Ampel«-Kanzlers Scholz – beinahe so, als habe sie einen mikroskopisch kleinen Rest Menschenfreundlichkeit an sich gehabt.
Was natürlich nicht so war, haha. Ich spreche hier ja von Nostalgie.
Jedenfalls habe ich aus diesen Beobachtungen die folgende unwiderlegbare These entwickelt: Der einzige Bundeskanzler seit Helmut Kohl, nach dem man sich – stets jeweils aus Sicht der ihm folgenden Wahlperiode, in der der jeweilige Nachfolger regiert – nicht zurücksehnt, ist Gerhard Schröder. Woran das liegen mag? Möglicherweise spielt sein stilles, zurückhaltendes Wesen und seine bescheidene Art eine Rolle.
Doch wenden wir uns, ausgestattet mit diesem Wissen, noch rasch der nahen Zukunft zu. Auch wenn uns das im Moment noch gänzlich unvorstellbar erscheint: Zwei Wochen, nachdem der Scholzomat von Fritze Merz abgelöst worden sein wird, wird uns die Zeit der sogenannten Ampel-Regierung in der Rückschau wie das Goldene Zeitalter vorkommen. Oder, um es mit den Worten des Kulturvermittlers und Autors Holm Friebe zu sagen: Das dem kalt und empathielos wirkenden Technokraten Olaf Scholz »oft angekreidete Credo ›Wer Emotionen hat, soll zum Arzt gehen‹ wird uns als wohltuend und heilsam erscheinen, wenn erst, wie es jetzt aussieht, ein impuls- und affektgesteuerter Schmierenschauspieler am Ruder ist und seine irrationale, von Emotionen und gefühlten Wahrheiten geleitete Politik exekutiert«.
Ich bin mir nicht sicher, ob, um einer besseren Zukunft willen, nicht der eine oder andere Funktionsträger der CDU/CSU einmal in einer stillen Stunde in sich gehen und sich fragen sollte, ob Erinnerung nicht auch aus anderen Gründen als Nostalgie wichtig sein könnte. Sicher ist jedenfalls: Altnazis gibt es heute im Bundestag keine mehr. Dafür aber etliche neue.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188945.die-gute-kolumne-the-times-they-are-a-changinr.html