Zehn Jahre ist es her, dass sich am 12. Februar 2015 die Staatschefs von Frankreich, Deutschland, Russland und der Ukraine in der belarussischen Hauptstadt auf ein Waffenstillstandsabkommen, allgemein als »Minsk II« bekannt, einigen[1] konnten, das – zumindest auf dem Papier – bis zum 24. Februar 2022 gültig war. Es galt, eine weitere Eskalation eines Krieges in der Ukraine zu verhindern, nachdem eine erste Waffenstillstandsvereinbarung, »Minsk I«, zunehmend brüchig geworden war.
Nötig wurden die Abkommen, weil Russland nach den monatelangen Massenprotesten des »Euromaidan« und dem Sturz des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch im März 2014 die Krim annektierte und die ukrainische Zentralregierung am 9. April 2014 die »Anti-Terror-Operation« ausrief, um die Separatisten gewaltsam aus den Regierungsgebäuden von Donezk und Luhansk zu vertreiben.
Nein. Noch während der Verhandlungen und auch nach dem Abkommen setzte Russland seine Eroberung der Stadt Debalzewo bei Donezk fort[2]. Bei den Kämpfen wurde die Stadt größtenteils zerstört. Am 18. Februar befahl der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko seinen Truppen den Rückzug.
Auch wenn Minsk II die Kämpfe nicht beenden konnte, sank mit dem Abkommen zumindest die Zahl der zivilen Opfer rapide. Verloren 2014 noch über 2000 Zivilisten ihr Leben, waren es zwischen 2019 und 2021 weniger als 30 pro Jahr.
Man hätte also mit »Minsk II« weiterleben können, hätte Russland nicht mit seinem Großangriff den Minsk-Vereinbarungen den Todesstoß versetzt.
Im Vordergrund stand ein Waffenstillstand um Mitternacht des 15. Februar 2015 und der anschließende Abzug aller schweren Waffen und ausländischer Truppen. Die OSZE sollte die Einhaltung beobachten.
Parallel sollte ein politischer Prozess in Gang gesetzt werden, der in einer Änderung der ukrainischen Verfassung verankert werden sollte. Damit sollte die Ukraine ihre Bereitschaft zur Dezentralisierung und Gewährung eines Sonderstatus für die Gebiete in der Ostukraine, der auch ein Selbstbestimmungsrecht in Fragen der Verwendung der russischen Sprache einschloss, deutlich machen.
Beiden Seiten fehlte es jedoch an der Ernsthaftigkeit bei der Umsetzung. Russland wurde nicht müde, in seiner imperialistischen Großmachtmanie von einem »Noworossija« zu schwärmen, wie es bereits im 18. Jahrhundert existiert hatte. Auch die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw und die Schwarzmeerküste bis nach Odessa sollten dazugehören.
In den von den Separatisten besetzten Gebieten gab man schon mal mehrere hunderttausend russische Pässe aus. Auch fand der im Abkommen vorgesehene Abzug der ausländischen, sprich russischen, Truppen aus dem Donbass nie statt.
Die Ukraine ihrerseits war nicht zu einer Umsetzung zentraler Punkte des politischen Teils der Minsk-Vereinbarungen, wie beispielsweise einem Zugeständnis auf sprachliche Selbstbestimmung und einen Sonderstatus für den Donbass bereit. Nur einen Tag nach dem Minsk-Abkommen zitiert die ukrainische Nachrichtenagentur Unian den damaligen Außenminister Pawel Klimkin mit den Worten, die Ukraine habe sich nicht verpflichtet, eine Verfassungsreform durchzuführen.
Eigentlich schon länger tot, wurde Minsk II mit der Anerkennung der Volksrepubliken durch Russlands Präsident Wladimir Putin am 22. Februar endgültig begraben. Zwei Tage später begann die Invasion.
Russlands Großangriff auf die Ukraine bedeutete nicht das Ende der russisch-ukrainischen Verhandlungen. David Arachamia, Verhandlungsführer der ukrainischen Seite bei russisch-ukrainischen Verhandlungen im Frühjahr 2022 in Minsk und Istanbul, sah auf russischer Seite damals durchaus eine Bereitschaft, den Krieg zu beenden. »Sie waren bereit, den Krieg zu beenden, wenn wir – wie einst Finnland – neutral würden und uns verpflichten würden, dass wir der Nato nicht beitreten«, zitiert ihn die »Ukrajinska Prawda«. »Doch als wir aus Istanbul zurückgekommen sind, kam [der damalige britische Premier] Boris Johnson nach Kiew und sagte, dass wir überhaupt nichts mit ihnen unterzeichnen werden – [sagte,] lasst uns einfach Krieg führen.«
Den vorläufigen Schlussstrich unter mögliche weitere Gespräche setzte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 30. September 2022, als er Verhandlungen mit Wladimir Putin per Erlass verbot.
Während die Regierung trotz einiger gegenteiliger Anzeichen weiterhin bei ihrem Nein zu Gesprächen bleibt, wandelt sich die Stimmung in der Bevölkerung zunehmend.
Mittlerweile, das zeigt eine von der »Ukrajinska Prawda« in Auftrag gegebene Untersuchung, seien 50 Prozent der Menschen zu Kompromissen mit den Besatzern bereit. Auch andere Umfragen zeigen ein ähnliches Stimmungsbild und stärker werdenden Unmut der Bevölkerung über die eigene Regierung[3].
Aktuell bewegen die Ukrainer in erster Linie soziale Fragen. Steigende Preise und die Wirtschaftskrise beunruhigen die Menschen mehr als die anhaltende Okkupation ukrainischer Gebiete oder die Angst vor einer Verschärfung der Luftangriffe, berichtete die »Ukrajinska Prawda« am 6. Februar.
Diese Ängste haben einen ganz realen Hintergrund: Ein Kilogramm Tomaten oder Gurken kostet in einem Supermarkt in Kiew um die drei Euro; wer sich über einen Lieferservice eine Pizza und ein Getränk bestellt, bezahlt hierfür zehn Euro. Gleichzeitig erhalten die meisten Rentner eine Rente von um die 100 Euro. Und wer bei einem Supermarkt an der Kasse sitzt, kann 600 Euro im Monat mit nach Hause nehmen.
Die russische Armee rückt im Osten langsam vor. Putins Anspruch auf die Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson wird von der ukrainischen Führung als Provokation wahrgenommen, auf die man sich nicht einlassen will.
In der Ukraine hat man sich von dem ursprünglichen Kriegsziel, das eigene Land zu verteidigen, entfernt. Der Spruch »Make Russia small again« auf einem T-Shirt von Präsident Selenskyj sagt mehr aus als manche Regierungserklärung. Ständig sind russische Ortschaften, darunter auch Wohnhäuser, Opfer ukrainischer Drohnenangriffe.