Hamburg ist dem Ruf nach eine »Abrissstadt«, erzählt Kristina Sassenscheidt vom Denkmalverein Hamburg. Exemplarisch dafür: die Lukaskirche im Stadtteil Sassel, in den 60er Jahren von der Architektin Eckert-von Holst in Form eines Zelts geplant, um einer Bibelpredigt zu entsprechen: »Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.« Passend dazu gehört die Lukaskirche inzwischen der Vergangenheit an. Die evangelische Gemeinde mit ihrer sinkenden Mitgliederzahl konnte die Instandhaltungs- und Renovierungskosten nicht mehr zahlen, umliegende christliche Gemeinden wollten die Kirche nicht übernehmen und andere religiöse Gemeinschaften werden in der Regel nicht dafür angefragt.
Letzteres sei aber, so Sassenscheidt, ohnehin keine Lösung für das Grundproblem. Denn von den derzeit 40 000 in Deutschland existierenden Kirchen sollen in den kommenden Jahren viele abgerissen werden. Unter anderem deswegen ist der Denkmalverein Hamburg inzwischen als eine von 40 Organisationen Teil der Anti-Abriss-Allianz (AAA), die sich am Dienstag vorstellte.
Laut Statistischem Bundesamt wurden in Deutschland 2022 16 500 Wohnungen abgerissen oder umgewidmet. Die Dunkelziffer dürfte höher sein, als vorliegende Statistiken nahelegen, merkt Leon Beck von Architects for Future an, eine Solidaritätsgruppe von Fridays for Future. Denn in Deutschland gibt es für Abrisse nur eine Anzeige- und keine Genehmigungspflicht und selbst erstere werde »relativ leger« gehandhabt. Initiativen wie ein digitaler »Abriss-Atlas«, in dem Interessierte Informationen zu geplanten oder vollzogenen Abrissen eintragen, versuchen, die Dimensionen in den vergangenen Jahren greifbarer zu machen. Auf der grau melierten Deutschlandkarte kann man sich stundenlang durch Abrisse klicken.
Auf Abriss folgt in der Regel Neubau[1]. Unter anderem fehlt es an Wohnraum – laut dem Bündnis Soziales Wohnen fehlen derzeit 550 000 Unterkünfte. Da der Bausektor zu den ressourcenintensivsten Wirtschaftssektoren gehört, ziehen hier Initiativen für alte Kirchen und Klimaaktivist*innen an einem Strang. Laut einer Studie des Umweltbundesamts machte der Bausektor 2022 54 Prozent des deutschen Abfallaufkommens aus. Der Gebäudesektor verfehlte 2024 zudem erneut seine Emissionsziele. Seit die Ampel-Regierung die Sektorenziele in ihrem neuen Klimaschutzgesetz abschaffte, fehlt ein weiterer Anreiz, das zu ändern. Global gesehen ist der Gebäudesektor für 40 Prozent der Treibhausgas-Emissionen verantwortlich.
Aus ökologischer Perspektive sei es deswegen sinnvoller, auf energetische Sanierungen zu setzen als auf energieeffizienten Neubau, betont die Deutsche Umwelthilfe, ebenfalls Teil der AAA, immer wieder. 2023 ging die Zahl energetischer Sanierungen jedoch zurück.[2]
Über jene Sanierungen hinaus fordert die AAA weitere Maßnahmen gegen den »Kreislauf aus Abriss und Neubau«. Eine Möglichkeit wäre, Leerstand besser zu nutzen. Derzeit wird er nicht behördlich erfasst. Dem Zensus zufolge standen 2022 aber 1,9 Millionen Wohnungen leer, 4,5 Prozent des gesamten Wohnungsbestands. Allein in Berlin gebe es außerdem 22 Millionen leere Quadratmeter Bürofläche, die umgenutzt werden könnten.
»Ein Abriss ist immer eine Zäsur, bei der gewachsene soziale Strukturen zerstört werden.«
Leon Beck Architects for Future
Darüber hinaus verlangt die AAA, vor Abrissen die Treibhausgasbilanzierung der Gebäude zu prüfen. In diesen werden Lebenszyklen von Gebäuden berücksichtigt und damit auch die sogenannte Graue Energie. Sie bezeichnet die Energie, die für Herstellung, Transport, Lagerung, Verkauf und Entsorgung eines Produkts aufgewendet wurde. Bisher gibt es vor Abrissen keine genehmigungspflichtige Ökobilanzierung. Außerdem brauche es mehr Forschung, zum Beispiel in der Form von Machbarkeitsstudien mit Blick auf die Erhaltung von Bauten sowie Fördermittel für die Erhaltung von Gebäuden, so die AAA.
Dabei geht es der Allianz nicht nur um Klimapolitik. Abriss bedrohe auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt und gefährde die »Pluralität von Baukultur und Identität(en)«. So zu beobachten in einer Münchner Genossenschaftlichen Kleinwohnanlage, wie Karin Nobbs vom Denkmalnetz Bayern erzählt. Das erste Denkmalnetzwerk Deutschlands ist inzwischen ebenfalls Teil der AAA.
Die 1911 erbaute Siedlung sei ein »frühes Beispiel für genossenschaftliche Linderung der Wohnungsnot«, beschreibt es das Denkmalnetz. Die Genossenschaft plant seit Längerem, einen Teil der Siedlung durch Neubau zu ersetzen. »Durch die Freimachung der Wohnungen wird sozialer Wohnraum verknappt«, kritisiert Nobbs. Darüber hinaus bedrohe der Teilabriss den sozialen Zusammenhalt des Viertels – auch die Eckkneipe der Siedlung müsste diesem weichen.
Die Initiative SEZ für alle setzt sich indes in der Hauptstadt für den Erhalt des ehemaligen DDR-Erholungszentrums SEZ[3] ein. Dessen Abriss käme einer Verminderung des Gemeinwohls gleich, zeigen sich die Initatorinnen überzeugt. Ob bei Kirchen, Sportzentren oder Kleinwohnanlagen: »Ein Abriss ist immer eine Zäsur, bei der gewachsene soziale Strukturen zerstört werden«, sagt Beck von Architects for Future.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188987.anti-abriss-allianz-wider-die-grosse-abriss-party.html