Zwölf Monate können im Fußball eine Ewigkeit sein. Wenn Bayer Leverkusen am Samstagabend den FC Bayern[1] empfängt, liegt das letzte Duell der beiden besten deutschen Fußballmannschaften in der BayArena genau 370 Tage zurück. Damals, am 21. Spieltag der Saison 2023/24, war es der Höhepunkt des Meisterschaftsrennens. Leverkusen ging als ungeschlagener Tabellenführer in die Partie. Und trotzdem gingen viele davon aus, dass der Rekordmeister das Überraschungsteam vom Rhein in die Schranken weisen würde.
Mit einem Sieg hätten die Bayern »Vizekusen«[2] von Platz eins verdrängt und die natürliche Hackordnung in der Bundesliga wiederherstellen können. Es kam bekanntlich anders. Mit 3:0 watschte die Werkself die strauchelnden Bayern ab. Thomas Tuchels Taktikkniff mit einer Fünferkette ging komplett nach hinten los, und Bayern-Urgestein Thomas Müller gab nach der Niederlage neidisch zu: »Wir haben teilweise eine Verkopftheit in unserem Spiel. Wenn du da im Vergleich Leverkusen siehst: Da ist doch nicht jeder Schachzug geplant, wenn der Grimaldo rechts auftaucht, obwohl er Linksverteidiger ist. Die zocken einfach Fußball, die suchen Lösungen.« Nach dem Sieg hatte Bayer fünf Punkte Vorsprung auf den FC Bayern – am Ende der Saison waren es 18.
Ein Jahr nach der Vorentscheidung im letzten Meisterrennen reisen die Münchner wieder nach Leverkusen, diesmal am 22. Spieltag der Saison 2024/25 und unter komplett umgedrehtem Vorzeichen. Komfortable acht Punkte liegt der Rekordmeister bereits vor dem amtierenden Meister. Doch nicht nur in der Tabelle haben Bayern und Bayer die Rollen getauscht. Waren es in der vergangenen Saison noch die Leverkusener und ihr Trainer Xabi Alonso, die für ihre offensive Kreativität[3] gefeiert wurden, sind es jetzt die Münchner, die im Angriffsspiel den Maßstab setzen.
Unter Tuchel-Nachfolger Vincent Kompany spielt der FC Bayern wieder dominanten Ballbesitzfußball, wie es ihn in München zuletzt unter einem gewissen Pep Guardiola zu sehen gab. In Europas Topligen kommt aktuell nur der FC Barcelona an die 65 geschossenen Ligatore der Münchner heran – wobei Barça[4] für seine 64 Treffer zwei Spiele mehr brauchte. So wie Leverkusen mit Xabi Alonso scheinen auch die Bayern mit Kompany ein großes Trainertalent gefunden zu haben. Ein Glücksfall, wenn man bedenkt, dass der 38-jährige Belgier nach diversen Absagen anderer namhafter Übungsleiter nur die F-Lösung[5] der Bayern-Bosse war.
Während Kompanys Bayern vor allem mit ihrer offensiven Wucht punkten, hat Alonso Leverkusen in dieser Spielzeit insbesondere defensiv weiterentwickelt. Nach einer Flut von Gegentoren zum Saisonstart kann die Werkself inzwischen auch ohne Ball Spiele kontrollieren. Ein Ansatz, der sich insbesondere gegen starke Gegner auszahlen kann und auch schon Früchte getragen hat – etwa beim 1:0-Sieg gegen Inter Mailand in der Champions League oder bei den zwei Auswärtspartien der Leverkusener in dieser Saison in München. Sowohl beim 1:1 in der Hinrunde als auch beim 1:0-Auswärtssieg[6] im DFB-Pokal-Achtelfinale waren die Bayern das dominante Team, hatten mehr Ballbesitz und Torschüsse, im Pokal sogar trotz einer 70-minütigen Unterzahl. Bayer agierte deutlich defensiver als beim furiosen 3:0-Erfolg vor einem Jahr und reiste trotzdem zweimal zufrieden nach Leverkusen zurück.
Vor dem Topspiel blieben die Bayern deswegen zurückhaltend, auch nach zuletzt sieben Bundesliga-Siegen in Folge. »Wir hatten in den letzten Spielen viele Probleme gegen Leverkusen. Wobei, wenn man die letzten beiden Spiele betrachtet, haben wir es kontrolliert, aber nicht so den Weg gefunden, ein Tor zu erzielen. Das müssen wir jetzt deutlich besser machen und trotzdem (…) nicht die Restverteidigung missachten«, erklärte Münchens Joshua Kimmich am Mittwoch nach dem 2:1-Sieg seiner Mannschaft im Hinspiel der Champions-League-Playoffs[7] bei Celtic Glasgow.
Das Duell im Celtic Park war ein Paradebeispiel für die Stärken und Schwächen der Münchner. Eine Stunde lang spielten die Bayern die Schotten schwindelig und lagen verdient mit 2:0 in Führung. Aber als es darum ging, das Ergebnis kontrolliert nach Hause zu bringen, begann die Kompany-Elf zu wackeln, kassierte den Anschlusstreffer und musste am Ende sogar um den Sieg bangen. Diese defensive Stabilität[8] in Spitzenspielen ist aktuell der Unterschied zwischen Bayern und Bayer. Hier sind die Leverkusener näher dran am Status eines absoluten Topteams.
Doch auch die Werkself hat noch ihre Probleme mit der eigenen Favoritenrolle. Zuletzt mühte sich Bayer in der Verlängerung mit viel Glück zu einem 3:2 im Pokal-Viertelfinale gegen den Lokalrivalen aus Köln. Beim Versuch, einigen Leistungsträgern danach etwas Erholung zu bieten, verkalkulierte sich Bayer-Coach Alonso mit seiner Rotation, sodass es am letzten Bundesliga-Spieltag nur zu einem 0:0 in Wolfsburg reichte. Am Samstag braucht Leverkusen deswegen unbedingt einen Sieg, um das Meisterschaftsrennen noch einmal spannend zu machen. Vielleicht kommt es deswegen sogar erneut zum Rollentausch, mit einer angriffslustigen Bayer-Elf und einem abwartenden Rekordmeister.