2012 schrieb der US-amerikanische Kulturtheoretiker Jack Halberstam in seinem Buch »The Queer Art of Failure« über die Bedeutung des Scheiterns in einem System, dessen normative Erfolgsmodelle untrennbar mit Ausbeutung und Herrschaft verbunden sind. In einer Welt, in der Erfolg auf dem Misserfolg anderer beruht und entlang patriarchaler Strukturen konzipiert wird (eine Familie gründen, Stärke zeigen, Reichtum besitzen), kann eine Niederlage auch als subversive Chance verstanden werden. Erst durch das Verlieren und das Verlernen von Erfolg eröffnen sich neue Ziele für das Leben, die Liebe und die Kunst – jenseits eines Gefüges, das die Mehrheit von uns ohnehin zum Scheitern verurteilt.
So kurz vor der Wahl übers Scheitern zu schreiben, mag unheilvoll erscheinen. Zum Wahlkampfmodus gehört es, Wähler*innen mit Hoffnung und Zuversicht zu motivieren und siegessicher aufzutreten. Doch trotz Umfragen, die der Linkspartei das Überspringen der Fünf-Prozent-Hürde prognostizieren, steht parlamentarische linke Politik in diesem Land, selbst mit 7 oder 9 Prozent der abgegebenen Stimmen, auf verlorenem Posten. Eine rechte Mehrheit aus CDU und AfD scheint gesichert – und bereit, ihre rassistische Programmatik auch ohne »Brandmauer« umzusetzen. Währenddessen überbieten sich Grüne und Sozialdemokraten darin, wer mehr Zugeständnisse machen würde, um als Juniorpartner von Merz zu regieren. Das plötzliche Erstarken der Linken lässt sich auch durch das rasante Abdriften aller anderen Parteien nach rechts erklären.
Zugegeben, Scheitern scheint bei den meisten linken Forderungen bereits vorprogrammiert: Smash Patriarchy, No Borders, No Nations, Alles für alle – und zwar umsonst! Wer Utopien zur Wirklichkeit machen will, muss mit ständiger Enttäuschung rechnen. Die Alternative? »Realistisch« sein, sich mit dem Bestehenden und seinen Zwängen abfinden, vielleicht ein paar Reformvorschläge oder Ressentiments obendrauf – das mag in der parlamentarischen Halbdemokratie kurzzeitig bessere Erfolgsaussichten haben. So dachten zumindest auch einige, die die Partei in letzter Zeit für neue Projekte verlassen haben. Aber wie Halberstam schon sagte: Warum sollten wir als Internationalist*innen und als Antikapitalist*innen nach Erfolg in Systemen lechzen, die auf Abschottung, Nationalismus und Ausbeutung basieren?
Mit Tausenden neuen Mitgliedern und Zigtausenden Haustürgesprächen hat die Partei mehr erreicht als mit ein paar zusätzlichen Sitzen im Parlament – nämlich eine große Masse von Menschen anzusprechen und einzubinden.
Das Ganze ergibt noch weniger Sinn, wenn man bedenkt, dass wir ohnehin vor einem Umbruch historischen Ausmaßes stehen. Die kommenden Katastrophen, die dieser tektonische Wandel mit sich bringt, können auch die klügsten und engagiertesten linken Abgeordneten im Bundestag nicht verhindern. Und dennoch – egal, welches Ergebnis am Sonntagabend kommt –, war dieser Wahlkampf bereits ein Erfolg.
Mit Tausenden neuen Mitgliedern und Zigtausenden Haustürgesprächen hat die Partei mehr erreicht als mit ein paar zusätzlichen Sitzen im Parlament – nämlich eine große Masse von Menschen aus unterschiedlichen Gegenden und Hintergründen anzusprechen, einzubinden und zu organisieren. Solche Organisierung solidarischer Strukturen ist unerlässlich für die kommenden Jahre, die Ungehorsam und Widerstand von uns fordern werden. Und für diesen Beitrag, den diese mehr als unperfekte Partei geleistet hat, sollten wir dankbar sein. Scheiternd schreiten wir voran!