nd-aktuell.de / 20.02.2025 / Politik / Seite 1

Francesca Albanese: »Ich bin besorgt«

UN-Sonderberichterstatterin: EU und Deutschland könnten im Nahen Osten konstruktive Rolle spielen

Gisela Dürselen
UN-Berichterstatterin Albanese wird in Deutschland häufig als Antisemitin diffamiert.
UN-Berichterstatterin Albanese wird in Deutschland häufig als Antisemitin diffamiert.

Für Francesca Albanese[1] liegt es auf der Hand: »Jetzt ist der Moment in der Geschichte, in dem wir den Unterschied machen können.« Nach ihrem Auftritt bei der 23. Internationalen Münchner Friedenskonferenz[2] erläuterte die UN-Sonderberichterstatterin[3] für die besetzten Gebiete Palästinas am Sonntag vor Journalisten, warum das Auseinanderdriften von Nato und EU auf der einen und den USA auf der anderen Seite auch Chancen bieten könne.

US-Präsident Donald Trump möchte aus Gaza die »Riviera des Nahen Ostens[4]« machen, und sein Vize J.D. Vance belehrt[5] bei der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) die Europäer über Demokratie. Nach Ansicht von Albanese ist es angesichts des »neuen Normal«, in dem der vermeintlich Stärkere die Regeln diktiert, an der Zeit für Europa, die Ketten der Abhängigkeit von den USA zu zerreißen und in einer neuen multipolaren Weltordnung neue Allianzen zu schmieden.

»Dieser Schritt wird teuer, sowohl wirtschaftlich als auch politisch«, prophezeit Francesca Albanese. Doch Frieden und Unabhängigkeit für alle seien wichtiger als Privilegien für wenige. Zuversichtlich stimme sie die Positionierung unabhängiger Mitgliedstaaten der UN-Vollversammlung außerhalb Europas, die sich trotz eines enormen Drucks von außen für einen Wandel hin zu einem Miteinander auf Augenhöhe einsetzten.

Wie können Länder das Völkerrecht schützen, und wie kann insbesondere Deutschland seiner historischen Verantwortung gerecht werden? Für Genozid – als solchen hat die Italienerin den Krieg Israels gegen die Hamas mit Zehntausenden Toten immer wieder bezeichnet – gebe es nicht nur eine klare Definition. Es bestehe eine ebenso klare Verpflichtung für alle Unterzeichnerstaaten der UN-Völkermordkonvention: Genozide seien zu verhindern, zu stoppen und zu bestrafen.

Dies könne im Falle Israels, aber auch vieler anderer Länder wie dem Kongo durch einen Stopp von Waffenlieferungen, durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) oder auch durch nationale Gerichte geschehen, die all jene zur Verantwortung ziehen, die sich schuldig machen, direkt und mittelbar. Darüber hinaus könnten einzelne Länder sicherstellen, dass ihre nationalen Unternehmen nicht von Ungerechtigkeiten, Menschenrechtsverletzungen und kolonialer Gewalt profitierten.

»Die Welt war immer schon ein ungerechter Ort für viele – und nun ist ein Moment, in dem dieser Fakt in seiner ganzen Hässlichkeit klar sichtbar ist.«

Francesca Albanese Sonderberichterstatterin der Uno für die besetzten Gebiete Palästinas

Auf individueller Ebene hält Albanese wenig etwa von dem Hinweis darauf, dass ein System nicht mehr funktioniere, denn Individuen seien Teil des Systems. »Ich weiß, viele Leute fühlen sich gerade hoffnungslos. Aber ich nicht. Denn die Welt war immer schon ein ungerechter Ort für viele – und nun ist ein Moment, in dem dieser Fakt in seiner ganzen Hässlichkeit klar sichtbar ist.« Anstatt über Probleme und all das zu sprechen, was nicht funktioniere, sei jetzt die Zeit, die Dinge klar als das zu benennen, was sie sind.

Hinsichtlich der Kritik an ihrer Person und den zahlreichen Hürden wie den Raumabsagen für die Münchner Friedenskonferenz und für ihren Vortrag an der Freien Universität Berlin [6]sagte Albanese: »Ich bin besorgt. Nicht in meiner Funktion als UN-Mitarbeiterin, sondern als Europäerin. Ich war immer sicher, in diesem Teil der Welt frei zu sein, zu denken und zu sprechen, ich war immer sicher, dass es Orte gibt, an denen wir uns treffen und unsere abweichende Meinung äußern können.« Diese Gewissheit sei nun zerbrochen.

Albanese kritisierte insbesondere deutsche Narrative. Die Verbrechen der israelischen Streitkräfte und rechter Siedler an den Palästinensern würden als Selbstverteidigung bezeichnet, die Kritik daran als Antisemitismus. Antisemitismus aber sei die Diskriminierung von jüdischen Menschen aufgrund der Tatsache, dass sie Juden sind, vergleichbar mit der Diskriminierung von Arabern, weil sie Araber sind, oder anderer Gruppen aufgrund bestimmter ethnischer Merkmale.

Angesichts dessen, was in Israel/Palästina geschieht, sollten Menschen in einer Gesellschaft wie der bundesdeutschen alarmiert sein, findet Albanese. Sie seien es aber nicht, weil viele Ungeheuerlichkeiten nicht sehen wollten, weil sie stumm blieben und weil sie dächten, dass all das erst mit dem Terrorangriff von Hamas- und anderen islamistischen Milizen mit mehr als 1100 Todesopfern am 7. Oktober 2023 begonnen habe.

An die Menschen in Deutschland gerichtet fragte Albanese: »Werden Palästinenser als menschliche Wesen betrachtet oder nicht? Zu welcher Art Monster sind wir geworden? Wenn Szenen von Grausamkeiten nicht mehr berühren, dann haben wir absolut nichts aus der Geschichte gelernt.«

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189047.sieben-tage-sieben-naechte-lechts-und-rinks-der-brandmauer.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189013.muenchner-sicherheitskonferenz-fuer-eine-alternative-zeitenwende.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1181657.gaza-krieg-un-sonderberichterstatterin-schwelle-zum-voelkermord-erreicht.html
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188831.gaza-krieg-die-riviera-des-nahen-ostens.html
  5. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189069.muenchner-sicherheitskonferenz-trumps-welt-das-neue.html
  6. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188996.antisemitismus-und-universitaeten-francesca-albanese-in-berlin-wissenschaft-als-kampffeld.html