Fünf Jahre ist das rassistische Attentat von Hanau[1], bei dem neun Migrant*innen getötet wurden, inzwischen her. Sie rufen nicht nur zum Gedenken, sondern zu einem antirassistischen Kampftag auf. Warum?
Mounir Nabily: Wir sehen Hanau nicht als Einzelfall, nicht als ein Systemversagen, sondern Teil eines Systems, das man als Ganzes betrachten muss. Wir wollen der Ermordeten gedenken, das aber nicht als Selbstzweck ritualisieren, sondern uns aktiv gegen das System organisieren, das diese Tat möglich machte. Deshalb gehen wir als Migrantifa United raus zum bundesweiten Antirassitischen Kampftag in Berlin, Köln, Frankfurt und Nürnberg.
Was meinen Sie genau mit »dem System«?
Raniya Soualem: Dass die Tat passiert ist und passieren konnte, liegt nicht nur an einem einzelnen rechtsextremen Täter. Die rassistische Debatte, die Migrant*innen als ein Problem darstellt, das es zu lösen gilt, bildete den Nährboden für diese Tat. Diese Debatte wurde und wird von führenden Politikern fast aller Parteien vorangetrieben. Die Polizei hatte die Fluchttüren in der Arena Bar, einem der Tatorte, verriegelt, weil sie als migrantischer Ort kriminalisiert wurde. Auch deshalb sind Menschen gestorben. Wir wissen inzwischen, dass Polizisten, die an dem Tatabend im Einsatz waren, Teil rechtsextremer Netzwerke sind. Und wir merken seit fünf Jahren, dass es seitens der Politik kein ehrliches Interesse an einer echten Aufklärung und an Gerechtigkeit gibt. Niemand der Verantwortlichen bei den Sicherheitsbehörden oder in der Politik wurde zur Verantwortung gezogen.
Hat ein jährlicher Kampftag, wie Sie ihn ausgerufen haben, nicht auch einen sehr ritualisierten Charakter? Worin besteht für Sie der Unterschied?
Soualem: Wir müssen so die Erinnerung an die Tat am Leben halten. Jetzt ist es fünf Jahre her, irgendwann ist es zehn Jahre her. Die Opfer verschwimmen im kollektiven Gedächtnis, bis die Taten abgelöst werden. Ritualisierend kann bedeutet, dass man das Thema immer wieder jedes Jahr für sich abhandelt, ohne die politischen Zusammenhänge zu hinterfragen und dagegen zu kämpfen. So erinnern ja zum Beispiel die großen Parteien jedes Jahr an Hanau. Wir nehmen den 19. Februar als Anlass, um diese Tat in eine Kontinuität der rassistischen Gewalt in diesem Lande einzubetten und bleiben danach das ganze Jahr in der gemeinsamen Organisierung aktiv. Für uns ist klar: Die Konsequenz aus Hanau ist Widerstand.
Was bedeutet für Sie Widerstand?
Nabily: Widerstand heißt für uns, aus der Vereinzelung herauszukommen, insbesondere in Deutschland, wo eine antirassistische Bewegung so noch nicht existiert hat. Und sich gemeinsam zu organisieren, um eine Art Gegenmacht aufzubauen. Momentan hat die antirassistische Bewegung nicht die Kraft, irgendwas von der Politik zu erzwingen. Das wäre aber auf längere Sicht das Ziel. Als Bewegung stark zu werden, dass man Konsequenzen und damit ein Stück Gerechtigkeit erzwingen kann.
Was sind dabei Ihre konkreten Forderungen?
Nabily: Unsere Forderungen richten sich in erster Linie nicht an Politiker*innen oder Parteien, sondern an die Menschen in diesem Land, die von Rassismus betroffen sind. Wir sagen: Organisiert euch, kämpft gegen den Rassismus in diesem Land und verlasst euch dabei nicht auf den Staat.
In den vergangenen Wochen kam es abermals zu Massendemos gegen rechts aus der bürgerlichen Mitte heraus. Ausschlaggebend war das gemeinsame Votum von CDU, FDP, BSW und AfD im Bundestag. Begrüßen Sie diese Proteste?
Soualem: Es ist schon beeindrucken, wie viele Leute da auf die Straße gehen. Wenn dann aber Grünen- und SPD-Politiker mitlaufen, nimmt das dem ganzen die Glaubwürdigkeit. Olaf Scholz redet stolz darüber, wie viel er abgeschoben hat, jetzt haben wir Habecks 10-Punkte-Plan, der Abschiebungen erleichtern soll. Am Ende ist es uns egal, ob ein Olaf oder ein Robert oder eine Friedrich uns abschiebt. Uns ist auch egal, ob dabei das EU-Recht gebrochen wird oder nicht. Wir sind gegen Abschiebungen.
Nabily: Genau, wir sind nicht gegen die AfD, sondern gegen AfD-Politik. Wir begrüßen es, dass diese Leute zumindest gegen einen Teil der Abschiebefordernden auf die Straße gehen. Noch mehr würden wir es begrüßen, wenn sie mit uns konsequent gegen Abschiebungen auf die Straße gehen würden.
Aufgrund der Machtzunahme der AfD und des allgemeinen Rechtsrucks in Deutschland stellt sich für immer mehr Menschen die Frage, das Land zu verlassen. Wie blicken Sie darauf?
Nabily: Diese Frage ist grundsätzlich verständlich, aber hier wird davon ausgegangen, dass der Kampf schon verloren ist. Davon gehen wir nicht aus. Wir haben nicht vor zu verschwinden, wir wollen alle hier bleiben und dafür sorgen, dass alle hier bleiben können. Wir wollen echten Antirassismus. Den bekommen wir nicht geschenkt, dafür streiten wir und dafür organisieren wir uns. Nur gemeinsam kommen wir aus dieser Ohnmacht, aus dieser Angst, in der sich Migrant*innen gerade aufgrund von Rechtsruck und staatlicher Repression befinden, heraus.