nd-aktuell.de / 19.02.2025 / Politik / Seite 1

Westjordanland: Überleben trotz Kälte und Nässe

Der massive Einsatz des israelischen Militärs im Westjordanland hat viele Menschen in die Flucht getrieben

Oliver Eberhardt
Palästinensische Frauen gehen im nasskalten Winter durch einen zerstörten Markt, der von Bulldozern der israelischen Armee in der Stadt Dschenin im Westjordanland abgerissen wurde.
Palästinensische Frauen gehen im nasskalten Winter durch einen zerstörten Markt, der von Bulldozern der israelischen Armee in der Stadt Dschenin im Westjordanland abgerissen wurde.

Mindestens 26 Palästinenser wurden in den vergangenen 30 Tagen getötet, Dutzende Gebäude zerstört, fast 40 000 Menschen seien insgesamt auf der Flucht, sagt die Palästinensische Autonomiebehörde. Während im Gazastreifen immer noch Hoffnung auf eine dauerhafte Waffenruhe[1] besteht, hat der Krieg im Westjordanland gerade erst begonnen.

In Dschenin, in Tulkarem, in Nur Schams und an anderen Orten sind vor gut einem Monat Hunderte israelische Soldaten einmarschiert, samt schwerem Gerät; sie sollen gegen die Hamas und den Islamischen Dschihad vorgehen, die in den vergangenen Jahren an manchen Orten die Kontrolle von der Autonomiebehörde übernommen und vor allem Waffen und Munition gehortet haben.

Nebeneinander von israelischer Armee und palästinensischer Polizei

Doch dieser Teil des Konflikts ist um einiges komplexer als der Krieg im Gazastreifen: Israelisches Militär und Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde kämpfen im Westjordanland zwar nicht Seite an Seite, aber nebeneinander. Zunächst rückten palästinensische Polizei und Sicherheitskräfte Ende vergangenen Jahres in Dschenin ein, einer im Norden des Westjordanlands gelegenen Stadt, die als Hochburg von Hamas und Islamischem Dschihad gilt. Tagelang wurde auch ein Krankenhaus belagert. Als der arabische Nachrichtensender Al-Jazeera das brutale Vorgehen der palästinensischen Sicherheitskräfte kritisierte, wurde er Anfang Januar von der Palästinenser-Regierung unter Führung von Präsident Mahmud Abbas einfach abgeschaltet und das Büro des Senders in Ramallah geschlossen.

Kurz darauf begann der israelische Militäreinsatz zunächst im Flüchtlingslager Dschenin[2] und weitete sich dann aus. Wichtig zu wissen: »Flüchtlingslager« ist eine Bezeichnung, die auf den Palästina-Krieg von 1948 zurückgeht, infolge dessen Zehntausende Palästinenser ihre Heimat verloren. Ursprünglich waren hier Menschen untergekommen, die aus anderen Teilen der Region geflohen oder vertrieben worden waren. Mittlerweile ist daraus eine feste Ortschaft mit dauerhafter Infrastruktur geworden; Flüchtlinge oder deren Nachkommen machen nur noch einen Teil der Bevölkerung aus.

Vorwürfe gegen die UNRWA

Viele der Einwohner der betroffenen Orte sind nun auf der Flucht, mitten im Winter, der in der Regel kalt und regnerisch ist. Die palästinensische Regierung ist nahezu pleite, es herrschen schon zu Normalzeiten Wohnungsnot und eine sehr hohe Arbeitslosigkeit. Hinzu kommt, dass das UN-Flüchtlingshilfswerk UNRWA, das die Strukturen hätte, um den Menschen wenigstens einigermaßen zu helfen, von Israels Regierung bei der Arbeit nach Leibeskräften behindert wird. Denn sie wirft der UNRWA vor[3], während des Gaza-Krieges eine zu große Nähe zur Hamas gezeigt zu haben. Auch einige der Täter des Massakers vom 7. Oktober 2023 seien Mitarbeiter von UNRWA gewesen. Allerdings hat die Organisation in den vergangenen Jahrzehnten dazu beigetragen, dass der Status quo überhaupt aufrechterhalten werden konnte. Jährlich flossen Milliarden Euro in die Region und verhinderten damit auch den Bankrott der Autonomiebehörde.

Israelisches Militär und Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde kämpfen im Westjordanland zwar nicht Seite an Seite, aber nebeneinander.

Roland Friedrich, Direktor für das Westjordanland beim UN-Flüchtlingshilfswerk UNRWA, bezeichnete den israelischen Militäreinsatz im Gespräch mit dem TV-Nachrichtenkanal Al-Jazeera als »beispiellos«, Teile der Flüchtlingslager könnten unbewohnbar werden.

Doch Israels Regierung sieht den Militäreinsatz als alternativlos an, weist jede Kritik von sich, so sie denn geäußert wird: Der Konflikt im Westjordanland spielt sich weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit[4] ab. Aus israelischer Sicht stellen Hamas und Islamischer Dschihad eine besondere Bedrohung für die eigene Sicherheit dar. Denn das Westjordanland liegt auf einer Anhöhe, bietet freies Schussfeld direkt auf den dicht besiedelten Großraum Tel Aviv.

Korrupte palästinensische Regierung

Die palästinensische Regierung indes sieht die beiden Organisationen und deren Anhänger als direkte Bedrohung für den eigenen Machtanspruch – hat gleichzeitig aber auch einen großen Anteil daran, dass Hamas und Islamischer Dschihad im Westjordanland Fuß fassen konnten: Abbas und seine Regierung gelten als intransparent und korrupt. Was vor 20 Jahren als demokratisches Experiment gestartet war, mit Wahlkampf und freien Wahlen, ist heute zur Diktatur verkommen. Mit Gewalt und Unterdrückung versucht der mittlerweile 89-jährige Abbas an der Macht zu bleiben. Und wie schon im Gazastreifen ist auch im Westjordanland klar: Die Hamas wird nicht gehen.

Einer Umfrage des palästinensischen Meinungsforschungsinstituts PCPSR vom September 2024 zufolge würde die Hamas bei Parlamentswahlen die größte Fraktion bilden. Bei Präsidentschaftswahlen würden nur noch sechs Prozent Abbas wählen.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188765.nahost-waffenpause-in-gaza-zweite-phase-wirft-viele-fragen-auf.html?sstr=westjordanland
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188452.palaestina-westjordanland-ein-neuer-krieg-hat-bereits-begonnen.html?sstr=westjordanland
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188684.palaestinenserhilfswerk-unrwa-bestrafung-fuer-die-helfer-der-palaestinenser.html?sstr=westjordanland
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1188459.israel-neue-annexions-optionen-fuer-das-westjordanland.html?sstr=westjordanland