nd-aktuell.de / 21.02.2025 / Kultur / Seite 1

Erinnerung an eine Erinnerung

Berlinale Special: Guillaume Ribots »Je n’avais que le néant« ist eine Reminiszenz an Claude Lanzmanns grundstürzenden Dokumentarfilm »Shoah«

Erik Zielke
Reise zu den menschlichen Abgründen: Claude Lanzmann fährt in das Dorf Treblinka.
Reise zu den menschlichen Abgründen: Claude Lanzmann fährt in das Dorf Treblinka.

Mehr als zehn Jahre hat Claude Lanzmann an »Shoah« gearbeitet. 1985, vor vierzig Jahren, kam das Werk in die Kinos. Sicher, Lanzmann hat mit seiner neuneinhalbstündigen Dokumentation Filmgeschichte geschrieben, aber nicht nur das: Er hat auch seinen Beitrag zur Aufarbeitung des deutschen Massenmords an den europäischen Juden geleistet, die Welt mit den Erinnerungen der Opfer konfrontiert, den jeder Vorstellung entrückten Zahlen von Toten das Wort derjenigen beigestellt, die Unaussprechliches durchleiden mussten.

Lanzmann hatte für seinen Film Überlebende der Vernichtungslager ausfindig gemacht, Juden, die der deutschen Mordlust nicht selbst zum Opfer gefallen sind, aber auch die Täter und deren Handlanger. Sie alle werden vom Filmemacher zum Reden gebracht. Manchmal wirkt er gnadenlos. Wenn die Erinnerungen zu sehr schmerzen, das Geschehene sich kaum in Worte bannen lässt, bleibt die Kamera eingeschaltet. Auch die Zumutung, die Überforderung, die Unmöglichkeit, mit der Vergangenheit zurechtzukommen, sollen bezeugt werden. Zeitgenössische Aufnahmen aus den Todeslagern oder ihren baulichen Überresten sowie von den Gleisen, die zur Infrastruktur des Lagersystems gehörten, kommen dazu. Ungeheuer wichtig und kaum anzusehen ist Lanzmanns »Shoah«.

Der französische Fotograf und Filmemacher Guillaume Ribot hat mit »Je n’avais que le néant« Lanzmanns »Shoah« selbst zum Gegenstand eines Dokumentarfilms gemacht. Von einer Art Making-of war verschiedenenorts die Rede. Ribots Film ist eine sanfte Reminiszenz – und die Erinnerung an eine Erinnerung.

2018 ist Claude Lanzmann 92-jährig in Paris gestorben. Dasselbe Schicksal ereilt die letzten Überlebenden aus den Vernichtungslagern der Nazis. Dieser Tage erst wurde die Nachricht vom Tod Marian Turskis bekannt gegeben, der das Grauen von Auschwitz selbst durchgestanden hatte. Im Januar dieses Jahres hatte Turski noch zum 80. Jahrestag der Befreiung mahnende Worte für die Nachwelt gefunden: »Unsere Tage, die der Überlebenden, sind gezählt: Aber wir werden nicht verstummen, wenn Sie, Sie alle nicht schweigen.«

Man darf nicht schweigen. Aber das Sprechen über den deutschen Vernichtungsfeldzug gegen alles Jüdische kann nicht mehr dasselbe sein in einer Welt, zu der die Opfer nicht mehr gehören und in der die Zeugen nicht mehr unmittelbar zu uns sprechen können. Eine Welt, in der der Holocaust-Vergleich zum Standardrepertoire politischen Sprechens gehört und Faschisten ihre Rückkehr auf die Straßen und in die Parlamente feiern.

Ribot verwendet nicht veröffentlichtes Material von Lanzmanns Arbeit an »Shoah«. Er spricht Passagen aus den Memoiren des Filmemachers ein. So wirft er leise und zurückhaltend Schlaglichter auf das monumentale Werk. Wir erleben Lanzmann, wie er hadert mit der selbst gestellten Aufgabe. Wie anfangen? Wie erzählen vom Tod Unzähliger? Wir folgen ihm auf der Suche nach den Überlebenden, die verschwindende Minderzahl im Vergleich mit den Toten, die zudem der Vergangenheit nicht selten fliehen. Wir stoßen mit ihm auf die Deutschen, die von allem nichts gewusst haben und die auch weiterhin nichts wissen wollen. Wir begegnen mit Lanzmann der polnischen Landbevölkerung, die alles mit angesehen hatte und die nie wieder gefragt wurde zu dem, was passiert war. Und natürlich diejenigen Polen, deren Judenhass ungebrochen war – was dann in dem Land ja auch zu einer Skandalisierung nicht des reaktionären Charakters der Bevölkerung, sondern von Lanzmanns »Shoah« geführt hatte.

Höchst respektvoll geht Ribot mit seinem Gegenstand, dem Filmemacher und seinem wohl unstrittig wichtigsten Werk, um. Es stellt sich die Frage, ob der Begriff Making-of nicht etwas hochgegriffen ist. Ribots »Je n’avais que le néant« ist eher ein Fingerzeig, eine formschöne Geste, die auf etwas Größeres aufmerksam macht. Das hier erstmals veröffentlichte Filmmaterial kommt natürlich der bekannten Fassung von »Shoah« durchaus nahe. Der Verschränkung von Lanzmanns Aussagen mit den Kamerabildern, die er in seiner unermüdlichen und kraftraubenden Arbeit angefertigt hat, gibt er einen Eindruck von der großen Aufgabe, der er sich gestellt hat.

Ribots Film kann aber selbstverständlich nicht an die Stelle von »Shoah« treten. Er verhält sich dazu eher wie die Fußnote zum Essay – was keinesfalls despektierlich gemeint ist. Etwas unbehaglich ist – von der Grausamkeit des Themas abgesehen – die Form, die stellvertretend für eine neue Etappe in der Erinnerungspolitik mit dem Sterben der letzten Zeugen in Zusammenhang zu stehen scheint: Eine einstündige Dokumentation hat Ribot geschaffen, etwas, das Lanzmann nie vermocht hätte, das brutale Weglassen einzelner Erinnerungen, die so vielleicht nie mehr in Gegenwart und Zukunft durchzudringen vermögen. Wir sollten »Je n’avais que le néant« also nicht als Ersatz für »Shoah« verstehen, dieses unkonsumierbare Opus, das trotz alledem angesehen werden muss.

»Je n’avais que le néant – ›Shoah‹ par Lanzmann«: Frankreich 2025. Regie/Buch: Guillaume Ribot. 94 Min.
22.2., 15.30 Uhr (Haus der Berliner Festspiele)