Wenige Tage vor Ablauf der ersten Phase des Waffenstillstandsabkommens für Gaza eskalieren die Spannungen in der Region. Die israelische Regierung hat am Samstagmittag die vereinbarte Übergabe von 620 palästinensischen Gefangenen gestoppt, obwohl die Hamas am Morgen sechs israelische Geiseln an eine Delegation des Roten Kreuzes übergeben hatte. Während der auch im israelischen Fernsehen live übertragenen Übergabezeremonie hatten mehrere Israelis ihre vermummten Geiselnehmer auf die Stirn geküsst. Diese Geste und die Zurschaustellung von Särgen mit getöteten Kindern hatte in Israel zu einer Welle der Empörung geführt. Man werde keine weiteren Palästinenser freilassen, solange die Erniedrigung der Geiseln nicht ende, sagte Premier Benjamin Netanjahu.
Die Hamas reagierte auf den Bruch der Übergabevereinbarung trotz ihrer militärischen Schwächung unbeeindruckt: »Solange die 620 Gefangenen nicht freigelassen werden, setzen wir die Verhandlungen aus«, so Bassem Naim, ein hoher Funktionär, zu Journalisten in Katar.
Über 60 Israelis sollen sich noch in der Hand der Hamas und verbündeter Milizen befinden; Vermittler aus Katar und Ägypten schätzen, dass die Hälfte davon noch lebt. »Durch Netanjahus Blockade liegen nun wieder alle Optionen auf dem Tisch«, so Naim, »Krieg oder Frieden.« Die Gespräche über den Beginn der zweiten Phase des Waffenstillstandsabkommens[1] liegen bereits wieder auf Eis. In dieser Phase sollten eigentlich alle nach Gaza entführten Israelis freikommen, während sich die israelische Armee vollständig zurückzieht. In Phase drei soll dann der Wiederaufbau beginnen.
Bassem Naim glaubt aber wie die israelischen Menschenrechtsaktivisten von »Btselem« oder »Peace Now«, dass Benjamin Netanjahu eher den Plänen seiner radikalen Koalitionspartner folgen wird.
Der religiös-radikale Finanzminister Bezalel Smotrich fordert immer wieder die totale Vernichtung der Hamas durch die Fortsetzung des Krieges. Er habe versprochen, dass es keine zweite Phase geben wird, so Smotrich am Montag. Auf Zivilisten solle man nach Wiederaufnahme der Bombardierungen keine Rücksicht nehmen, er wolle den Gazastreifen mit Israelis wiederbesiedeln. »Die palästinensische Gesellschaft ist barbarisch und huldigt dem Tod. Schon bald werden wir dafür sorgen, dass ihr Lächeln auf diesen Zeremonien zu Schreien der Verzweiflung werden.«
Laut einer Umfrage der Zeitung »Maariv« glauben nur acht Prozent der Israelis, dass Netanjahu mit der 15-monatigen Bombardierung von Gaza die Hamas wie angekündigt zerschlagen konnte. »Sobald die Geiseln frei sind, würde die Mehrheit der Israelis die Fortsetzung des Krieges befürworten oder hinnehmen«, glaubt der politische Analyst Ori Goldberg aus Tel Aviv. »Ihnen ist das Schicksal der Palästinenser völlig egal.«
»Heute beweisen wir, dass der Widerstand gegen Israel ungebrochen ist.«
Mohammad Musawi Hisbollah-Anhänger bei der Beerdigung von Hassan Nasrallah
Die Veröffentlichung der Videos von der Bombardierung des unterirdischen Verstrecks von Hisbollah-Anführer Hassan Nasrallah am vergangenen Wochenende sieht er als Zeichen der fortschreitenden Verrohung der Gesellschaft durch Smotrich und andere Radikale.
»82 Bomben wurden auf ein Wohngebiet abgeworfen und damit der Tod von unzähligen Zivilisten in Kauf genommen, nur um Nasrallah zu töten«, so Analyst Ori Goldberg im Gespräch mit »nd«. »Dass so ein Vorgehen nicht mehr infrage gestellt wird, jegliches Mitgefühl mit der anderen Seite abhanden gekommen ist, fördert den Kreislauf der Gewalt.«
Am Sonntagmorgen schoben sich kilometerlange Blechlawinen aus allen Teilen des Libanons in die südlichen Vororte von Beirut. Die gelben Fahnen[2], die vielen Kinder in den Autos und die entspannte Stimmung auf den Straßen ließ das Ziel ihrer Reise fast wie ein Familienfest erscheinen.
Doch im Chamoun-City-Stadion wurde mit fünfmonatiger Verspätung Hassan Nasrallah und Haschem Safi Al-Din gehuldigt. Die offizielle Beisetzung des Hisbollah-Anführers und des Chefs des Exekutivrats der Organisation war aus Sicherheitsgründen immer wieder verschoben worden. Beide starben bei israelischen Luftangriffen auf den Süden Beiruts[3]. Nach dem Abzug der israelischen Armee aus weiten Teilen des Libanons und der Übernahme ihrer Stellungen durch die Unifil-Mission der Vereinten Nationen und der libanesischen Armee wollen die 50 000 Besucher im Stadion offenbar den Neuanfang der Bewegung feiern.
»Auch wenn die Hisbollah nicht Teil der neuen Regierung[4] ist«, schreit ein in gelbe Parteifahnen gewickelter Anhänger inmitten der dichtgedrängten Massen.
»Heute beweisen wir, dass der Widerstand gegen Israel ungebrochen ist«, sagt der 38-jährige Ingenieur Mohammad Musawi. »Militärische Überlegenheit nützt nichts gegen Überzeugungen, gegen Unrecht zu kämpfen.«
Zweimal fliegen während der Veranstaltung Staffeln israelischer F-15- und F-35-Kampfjets[5] über das Stadion. »In Angriffsformation«, lacht einer der Zuschauer und filmt abwechselnd die Jubelszenen auf der Bühne und die ohrenbetäubende Machtdemonstration am Himmel.