Wie Wind an Wind gelehnt: so gehen Katzen. Und wenn sie springen, türmt sich Wasser auf. Zu einer Monsterwelle, die mit Schmatzen zurück ins Glatte fällt, sich wieder hebt. Bis man den Eindruck hat, das Raubtier schwebt. In solchem endlos mühelosen Lauf sind Zeit und Raum gemacht aus Muskelspiel. Und wo kein Weg ist, gibt es auch kein Ziel.
Als ich im Flockentaumel des zweiten Schnees dieses noch jungen Jahres stürze und mir zum zweiten Mal das Knie aufschlage, kann ich abermals zehn Tage nicht schwimmen gehen. Das erste Loch noch nicht gestopft, ruht das Knie in der verletzten Hose, die Katze auf dem Bauch. In den Händen ein tröstendes Buch. »Die Winterschwimmerin«[1] von Marion Poschmann[2] erblickt dieser Tage das Licht der Welt. Auf dem Cover treibt ein blasser Mensch in grün-schwarz-hellen Kringeln in einem Teich, gemalt vor achthundert Jahren für das Buch der Falknerei[3] von Kaiser Friedrich des Zweiten. Am Saum der Wasserfläche blühen Blumen, warten Gewänder.
Der Verfasserin[4] Begehr ist es, uns an gelben Lanzettblättern vorbei schnurstracks in das schwarze Wasser eines Berliner Sees zu führen. Kälte hat eingesetzt. Da ist Thekla, die es von Paula hat und die von ihrer Großmutter. Sie wissen, der Mensch kann bei beliebiger Temperatur draußen baden, dazu braucht es keine besonderen Hilfsmittel, keine Schutzschicht, erst recht keinen Anzug aus Neopren. Nur einfaches Weiterschwimmen vom Sommer zum Herbst[5]. Im Winter dann erlebt man das Wunder, der Körper passt sich an.
»Sie tritt über nasse Sande ans Ufer.« Ich bin eingesogen, längst dabei. Gleite mit Thekla in den See[6], der sie umfasst, ihre Extremitäten durchdringt, die Finger ertauben lässt, die Füße. Wenn ihr kalt ist, gefühllos geworden die Haut und ihr Inneres brennend wie ein Hitzeball, bekennt sie. Es ging darum, sich freizumachen von allem, den Regeln, dem Alten und der Großstadt. Sich einzulassen auf die Natur, den Himmel und dessen Gewässer. Thekla lässt sich nicht stören von Müttern mit Kinderwagen, Angestellten in der Mittagspause, Jugendlichen mit Kampfhunden und lauter Musik. Tief atmen. Ruhig bleiben. Das ist das Wichtigste. Sie schwimmt allein, den Eisbären und Seehunden[7], Vereinssportlern[8], Stockenten und Blesshühnern davon. Sie schwimmt den Eisrand entlang, auf Augenhöhe mit den Vögeln.
Das Gedicht öffnet sich. Ich rase mit Thekla und einem flammenden Tiger bis an die Küste. Dort liegt das Meer, die Dichterin reimt von den Katzen. Das Schilf bewegt sich in der Bucht, die Möwen gehen auf die Flucht. Nun ist es früh im Jahr und Thekla schwimmt längs des Horizonts. Findet auf den Kleidern, die sie am Ufer ließ, den Tiger. Sie sieht ihn an, der Tiger schaut zurück. Legt eine Pranke auf ihr Knie. Wer rettet wen? Der Tiger träumt, Thekla fließt davon, in der Hosentasche die Strände, zusammengepackt zu einer Handvoll Sand.
Zurück in Berlin entdeckt sie unscharfe Schemen auf dem See, Wolken wie Zuckerwatte im Wasser, dann Wind. Und ich? Verliebt in diese Verse beginne ich zu zittern unter meiner Katze, wie ich dort stand, »praktisch nackt, weiß wie Streusalz und ehrfürchtig, scheu, weil diese Fläche so sehr in sich ruhte«.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189417.ueber-wasser-eisschwimmen-mit-tiger.html