Bertolt Brecht, so ist es in jedem Literatur- oder Theaterlexikon zu lesen, hat sein Stück »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise 1929 verfasst. Das ist ganz richtig, verschweigt aber das Wichtigste, nämlich Folgendes: Krise ist im Kapitalismus eigentlich immer. Des einen Krise ist des anderen Konjunktur. Und während auf dem freien Markt die da oben um Profite konkurrieren, konkurrieren die da unten nur um den letzten Teller Suppe.
Die Dynamiken dieser Marktbewegungen hat Brecht mit seinem Drama gewitzt und klug und nachvollziehbar in Szenen gefasst. Nun hat Regisseur Dušan David Pařízek[1] die »Heilige Johanna« in der vorigen Woche am Berliner Ensemble, noch immer ein Ort für ernst zu nehmende Auseinandersetzungen mit Meister Brecht, zur Premiere gebracht. Seine Inszenierung begegnet dem Stoff ohne ironisches Augenzwinkern – eine der chronischen Erkrankungen im politischen Theater –, mit großer Konzentration und Fokus auf das Wesentliche. Wo Pařízek kürzt, tut er es mit Bedacht und mit Gefühl für den Rhythmus. Wo er das Stück durch dezente Aktualisierungen und einen Fremdtext erweitert, ist das überaus wirkungsvoll und endet keineswegs, wie so oft, in unfreiwilliger Komik.
Wir sind in Chicago, es ist das Jahr 1930. Mauler, Fleischkönig genannt, verkauft seine Geschäftsanteile an seinen Partner Cridle. Nein, nicht des Tierwohls wegen, wie er selbst behauptet, sondern wegen eines Tipps von der Wallstreet. Bevor der Deal perfekt ist, muss allerdings noch der Mitbewerber Lennox in den Ruin getrieben werden. Dass so was nicht ohne Folgen für das Arbeitsvolk bleibt, versteht sich, und bald stehen erst 70 000, dann 100 000 Menschen ohne Arbeit da. Es ist nicht der einzige Hinweis, der Mauler zugeht, und so lernen wir bühnenwirksam, was es heißt, mit Waren zu spekulieren.
In das Geschäftsgebaren verwoben, entspinnt sich die Geschichte der Johanna Dark, die für die Schwarzen Strohhüte – eine illustre Parodie der Heilsarmee – unter den Werktätigen Genügsamkeit predigt und Entschädigung im Nachleben verspricht, also mit ihren Mitteln für die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung eintritt. Die Einblicke in das Elend belehren Johanna nahezu eines Besseren. »Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht«, weiß sie. Aber so schnell sie zu der Einsicht gelangt, dass sich nur durch Gegengewalt die Verhältnisse ändern werden, schreckt sie doch vor den Konsequenzen zurück und lässt sich leichtgläubig vom friedlichen Wandel überzeugen.
Der Mauler ist bei Pařízek mit Stefanie Reinsperger besetzt, die jahrelang am Berliner Ensemble beschäftigt war, hier auch bereits den Baal gegeben hat und nun als Gast vom Wiener Burgtheater nach Berlin-Mitte zurückkehrt. Reinsperger zählt zu den markantesten Theaterschauspielerinnen ihrer Generation. Ihre Bühnenroutine, immer möglichst wuchtig und laut zu sprechen, wenn nicht zu schreien, energetisch unmittelbar von null auf hundert zu gehen, drohte bereits gelegentlich ins Manieristische abzudriften. In der »Heiligen Johanna« ist ihr Spiel weitaus differenzierter, dennoch gewohnt kraftvoll, und man merkt, welche Ausnahmedarstellerin durch Reinspergers Weggang am Haus fehlt.
Kathleen Morgeneyer, die in der letzten Spielzeit vom benachbarten Deutschen Theater ans Berliner Ensemble gewechselt war, ist in der Titelrolle zu sehen. Tatsächlich fällt es schwer, sich eine passendere Besetzung vorzustellen. Morgeneyer mit ihrem sanften, aber hartnäckigen, manchmal auch lamentierenden Tonfall wird der Figur der Johanna jedenfalls vollumfänglich gerecht. Pařízek spitzt das Stück ganz auf diese beiden Figuren zu, was nicht ganz ohne inhaltliche Verluste zu bewerkstelligen ist.
In der Pause an diesem gut zweistündigen Theaterabend rührt sich Reinsperger nicht von der Bühne, sondern dreht hier so richtig auf. Für diejenigen, die es nicht zum kulinarischen Angebot in die Foyers zieht, hält Mauler einen großen Monolog bereit, der dem Roman »Der Streik« (im Original: »Atlas Shrugged«) der US-amerikanischen Kultautorin Ayn Rand entliehen ist. Es ist ein wortgewaltiges Pamphlet, das die Überlegenheit des Starken feiert und die Wesensverwandtschaft von libertärer Ideologie und Faschismus augenscheinlich macht.
Ungekünstelt fügt sich der Text in die Inszenierung ein, und er überhöht Brechts Figurenzeichnung, ja entstellt sie bis zur Kenntlichkeit. Hier ist sie wieder, die nicht abreißende Reinsperger’sche Energie, die an dieser Stelle allerdings wenig Facettenreichtum zulässt und darstellerische Möglichkeiten verspielt.
Pařízek bemüht sich um große Bilder für den teilweise auch abstrakten Stoff. Die schräge Bühne lässt eine klare Hierarchisierung der Figuren im Spiel zu. Projektionen sorgen für inhaltlichen und atmosphärischen Kontext. Die Rollen des Fleischindustriellen Lennox und des invaliden Arbeiters Gloomb, des Majors der Schwarzen Strohhüte Paulus (hier Paula) Snyder sowie zweier Zeitungsjungen übernimmt allesamt Amelie Willberg, die für schnelle Szenenwechsel sorgt.
Es mangelt der Inszenierung also nicht an szenischen Ideen, ebenso wenig an Tempo. Mit Vergnügen sieht man dem herausragenden Schauspielensemble an diesem Abend zu. Dennoch fehlt es etwas an sinnlicher Überzeugungskraft, die das Brecht’sche Ideentheater doch gerade herausfordern sollte.
Nächste Vorstellungen: 15., 16. und 21.3.
www.berliner-ensemble.de[2]