Seit Wochen eskalieren die bewaffneten Konflikte in den ländlichen Regionen Catatumbo und Chocó. Über 80 Menschen wurden getötet, und mehr als 50 000 Menschen mussten aufgrund von Zwangsvertreibungen ihre Heimat verlassen. Was genau geschieht seit Mitte Januar in diesen beiden Regionen?
Es ist nicht die Schuld der Regierung Gustavo Petros, wie es die traditionellen kolumbianischen Medien derzeit verkaufen. Es handelt sich um eine Gewalt, die von den Eliten, die immer die Macht hatten, gewollt wird, weil sie dazu führt, dass sie ihre Macht behalten. Als der Friedensvertrag 2016 in Havanna mit der Farc-Guerilla unterzeichnet wurde, wurden Versprechen gemacht, die unsere Vorgängerregierung nie gehalten hat. Sie hat die Gelder, die für den Frieden gedacht waren, gestohlen. Damit wurde eine schlimme Entwicklung für die ländlichen Regionen eingeleitet, in der Unterzeichner des Friedensabkommens ermordet wurden. Die Oligarchie gewinnt mit der Politik des Krieges. In Zeiten Álvaro Uribes (Präsidentschaft 2002–2010, d. Red.) war jeder militärisches Ziel, der anders dachte. Diese Situation dauert seit Jahrzehnten an und die Rechte nutzt die eskalierende Gewalt, um ihren Status zu halten.
Viele glauben nicht mehr an einen Frieden in Kolumbien[1]. Wie beurteilen Sie den Stand in Bezug auf das Ziel des »vollständigen Friedens« von Präsident Petro?
Das Projekt des vollständigen Friedens, das von der aktuellen Regierung unter Präsident Petro vorangetrieben wird, ist weit mehr als nur ein Gesetz – es erfordert ein grundlegendes Umdenken. Nach Jahren, in denen frühere Regierungen weder die Gewalt im Land effektiv bekämpften noch den Friedensvertrag von 2016 konsequent umsetzten, steht die Regierung nun vor der enormen Herausforderung, den Frieden in Kolumbien tatsächlich zu verwirklichen. Gleichzeitig sieht sich die Regierung einem Kongress gegenüber, der von mafiösen Strukturen durchzogen ist. Er blockiert nicht nur die soziale Agenda des Landes, sondern untergräbt aktiv die Idee eines Wandels. Statt auf Fortschritt hinzuarbeiten, streben diese Kräfte danach, die Macht zurückzugewinnen, und profitieren dabei vom möglichen Scheitern des Projekts »Paz Total«. Eine echte Demokratie scheint für sie nicht erstrebenswert. Hinzu kommen die wirtschaftlichen Interessen der Elite, die eng mit Drogenschmuggel, Paramilitarismus und dem Bergbau verknüpft sind. Diese rechte Machtstruktur weigert sich, ihre Privilegien aufzugeben. Die kolumbianische Rechte ist eine der stärksten in ganz Lateinamerika. Sie hat sich gegen die Bildung einer gerechteren Gesellschaft gewehrt, um an der Macht zu bleiben. Dieser Widerstand hat in Kolumbien viele Menschenleben gekostet. Die aktuelle Regierung steht vor der enormen Herausforderung, dieses System des Konflikts und der Gewalt zu überwinden und einen dauerhaften Frieden zu schaffen.
Präsident Petro hat in den vergangenen Wochen viele innen- und außenpolitische Krisen erlebt. Ein Zollstreit mit Donald Trump, die Auflösung seines Kabinetts, das Aufflammen mehrerer bewaffneter Konflikte im Land. Seine Zustimmungswerte sind am Tiefpunkt. Wie sehen Sie die Situation?
Als Präsident der ersten linken Regierung des Landes hat es Petro nicht leicht. Er muss in einem neoliberalen Staat regieren, dessen Institutionen genau auf dieses Konzept ausgerichtet sind. Die meisten Ministerien dienen dazu, den Klientelismus und den bisherigen bürokratischen Apparat aufrechtzuerhalten. Eine solch tief verwurzelte Struktur kann man nicht in nur vier Jahren verändern. Der Wandel, den der Historische Pakt anstrebt, benötigt deutlich mehr Zeit. Dennoch werden mit dieser Regierung die ersten Impulse gesetzt. Es ist entscheidend, eine ambitionierte politische Agenda zu verfolgen, wie sie der Präsident gemeinsam mit seiner Vizepräsidentin Francia Márquez vorantreibt: Umweltschutz, ein umfassender Frieden, die Energiewende, sozialer Wandel und die Bekämpfung des mafiösen Systems, das die Bürokratie und die Gerichte durchdringt. Ziel ist es, ein Land zu schaffen, das im klaren Kontrast zur bisherigen reaktionären Politik steht. Die medialen Attacken, denen Petro ausgesetzt ist, haben ein Ausmaß erreicht, das kein früherer Präsident jemals erleben musste.
In den Konfliktregionen ist auch die ELN-Guerilla aktiv. Sie war ursprünglich eine »Guerilla« des Volkes, aber in den vergangenen Wochen wurde ein anderes Bild vermittelt, unter anderem wurde sie für die Ermordung von Unterzeichnern des Friedensvertrags verantwortlich gemacht. Wie schätzen Sie die Situation ein?
Die ELN, die einst als Rebellenbewegung mit einem sozialen Fokus begann, hat diesen Schwerpunkt längst verloren. Der politische Wille zum Friedensdialog scheint aufgegeben worden zu sein. Stattdessen konzentriert sich die Gruppe zunehmend auf Drogenschmuggel und hat sich zu einer kriminellen Bande entwickelt, die ihren sozialen Anspruch eingebüßt hat. Heutzutage geht es der ELN vor allem um die Kontrolle von Territorien. Die Ideale, die wir in der kolumbianischen Linken weiterhin verfolgen – insbesondere den Glauben an den Friedensdialog –, hat sie hinter sich gelassen. Stattdessen isoliert sie sich immer mehr und widmet sich ihrem Drogenhandel. Sie ist zu einer illegal bewaffneten Gruppe geworden, die fälschlicherweise behauptet, die Unterstützung des Volkes zu genießen. Diese vermeintliche politische Legitimation nutzt sie weiterhin strategisch, um mögliche Vorteile zu erlangen.