Der Leiter des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, hat mit Aussagen über den Krieg in der Ukraine für Empörung im Land gesorgt. Im Interview mit der Deutschen Welle behauptete Kahl, Russland habe es eigentlich auf Europa abgesehen und nutze den Ukraine-Krieg lediglich, um sich darauf vorzubereiten. Sollte der Krieg vor 2029 oder 2030 enden[1], sei Moskau vermeintlich auch früher in der Lage, mit seinen technischen, materiellen und personellen Mitteln eine Drohkulisse gegen Europa aufzubauen. Das sei früher, als man das berechnet habe. Ein »frühes Kriegsende in der Ukraine befähigt die Russen, ihre Energie dort einzusetzen, wo sie sie eigentlich haben wollen. Nämlich gegen Europa«, postulierte Kahl.
In der Ukraine wurden die Aussagen Kahls mit Verwunderung aufgenommen. Andrij Kowalenko, Leiter des Anti-Desinformations-Zentrums warf Deutschland auf Telegram vor, faul zu sein und seine Gesellschaft nicht auf die unausweichliche Konfrontation mit Russland vorzubereiten.
Die Vorsitzende der oppositionellen Vaterlandspartei und ehemalige Ministerpräsidentin Julia Tymoschenko zeigte sich entsetzt. »Jemand hat entschieden, für die ›Erschöpfung‹ Russlands im Namen der Sicherheit in Europa mit der Existenz der Ukraine und dem Leben Hunderttausender Ukrainer zu bezahlen? Ich hätte nicht gedacht, dass man darüber so offiziell und offen spricht«, schrieb Tymoschenko auf Facebook und forderte die Regierung Wolodymyr Selenskyjs zu einem schnellen Friedensschluss auf.
»Jemand hat entschieden, für die ›Erschöpfung‹ Russlands mit der Existenz der Ukraine zu bezahlen? Ich hätte nicht gedacht, dass man darüber so offiziell und offen spricht.«
Julia Tymoschenko Vorsitzende der Vaterlandspartei
Ähnlich äußerte sich Oleksij Hontscharenko von der Fraktion Europäische Solidarität. »Nicht in fünf oder zehn Jahren. Lasst es uns beenden. Um die Wirtschaft wieder aufzubauen und die Armee auszubauen. Es ist wichtig, unser Land jetzt zu bewahren«, schrieb Hontscharenko auf Telegram und forderte ein Ende des Messianismus. »Wir müssen niemanden retten. Wir müssen uns retten.«
Der Politikwissenschaftler Anatoliy Oktysjuk sieht sich durch Kahls Aussagen bestätigt. »Natürlich sind Friedensverhandlungen und ein Ende unseres Krieges für Europa unvorteilhaft. Sollen sich doch die Ukrainer so lange wie möglich abrackern, damit es in Europa ruhig bleibt«, schrieb Oktysjuk in sozialen Medien. Kahl habe ehrlich zugegeben, wovon er bereits die vergangenen zwei Jahre gesprochen habe, so der Politikwissenschaftler.
Für Präsident Selenskyj kommt das Kahl-Interview zu einer ungünstigen Zeit. Vor den Verhandlungen mit den USA am Dienstag in Dschidda[2] kommt nun zusätzlicher Druck aus dem eigenen Land. Selenskyj hatte immer wieder betont, nur einen »gerechten« Frieden zu seinen Bedingungen zu akzeptieren. Doch die Trump-Administration drängt Selenskyj seit Wochen zu Gesprächen und Zugeständnissen, droht mit weiteren Kürzungen der Hilfe.
In der saudi-arabischen Hafenstadt könnten die USA die Ukraine in die Verantwortung für einen teilweisen Waffenstillstand[3] nehmen, dem Verhandlungen folgen sollen, meldet die Nachrichtenagentur Bloomberg. Selenskyj selbst hatte in den vergangenen Tagen eine Feuerpause ins Spiel gebracht. Die soll seiner Meinung nach für den Luftraum und das Schwarze Meer gelten, wo die Ukraine russische Angriffe kaum noch abwehren kann. Am Boden will Selenskyj jedoch weiterkämpfen. Kiew fürchtet, dass Russland eine Feuerpause am Boden nutzen könnte, um Truppen zusammenzuziehen, sagte der Präsidentenberater Serhij Leschtschenko vor Abreise der Delegation nach Saudi-Arabien.
Trotz drohenden Waffenmangels konnte die ukrainische Armee den russischen Vormarsch im Donbass in den vergangenen Wochen fast zum Erliegen bringen, ging sogar zu kleineren Gegenoffensiven über.
In den besetzten Gebieten bei Kursk droht ihr hingegen eine Katastrophe. Wie das ukrainische Fernsehen unter Berufung auf Soldaten berichtete, haben russische Militärs die Nachschublinien blockiert. Am Wochenende sollen russische Soldaten größere Geländegewinne erzielt haben und eine Einkesselung der ukrainischen Truppen vorbereiten. Bis zu 10 000 Soldaten könnten eingeschlossen werden. Verschiedenen Angaben zufolge hat die Ukraine 70 Prozent des besetzten Gebietes wieder verloren. Der Kreml gab sich am Montag überzeugt, die Ukrainer bald aus dem Gebiet Kursk zurückzudrängen, wollte seiner Armee aber keine Frist setzen.
Für Selenskyj, der den Einmarsch in Kursk gegen den Willen seiner Generäle durchgesetzt hatte, wäre das ein weiterer Rückschlag. Verliert er doch damit sein letztes Faustpfand, um Russlands Präsident Wladimir Putin an den Verhandlungstisch zu zwingen.
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1189651.bundesnachrichtendienst-noch-fuenf-jahre-krieg.html