Norwegens Skispringer haben vor dem Auftakt der Raw-Air-Tour an diesem Donnerstag in Oslo wieder etwas an ihren Sprunganzügen verändert. Diesmal war es keine bewusste Manipulation wie bei der Heim-WM in Trondheim[1] – das Sponsorenlogo von Help musste entfernt werden. Der norwegische Versicherungskonzern begründete den sofortigen Abschied mit den Worten: »Es versteht sich von selbst, dass wir unser Logo nicht auf den Bekleidungsstücken eines Teams haben wollen, das betrügt.« Auch der Rüstungskonzern Nammo, dessen Schriftzug auf den Helmen prangte, hat sich bereits zurückgezogen.
Für das norwegische Flieger-Team, das ohnehin mit Sponsorenproblemen zu kämpfen hatte und daheim im Schatten der übermächtigen Skilangläufer um den sechsmaligen Trondheim-Weltmeister Johannes Kläbo steht, ist das eine Katastrophe. Für den gesamten Skisprung-Zirkus[2] auch. Der Weltverband Fis hat am Tag, als der sechsmalige Weltmeister Markus Eisenbichler seinen Rücktritt erklärte, mit ersten Maßnahmen reagiert: Für die restliche Saison ist seit Mittwoch nur noch ein Sprunganzug pro Flieger erlaubt, der von der Materialkontrolle eingehend geprüft wird und erst kurz vor dem Wettkampf freigegeben wird.
Andreas Wellinger[3], der bei seinem Silbergewinn vom norwegischen »Manipulator« Marius Lindvik geschlagen wurde, fordert weitere Konsequenzen: »Das war einfach eine Verarsche. Dürfen die am Donnerstag alle ganz normal starten? Ich habe eigentlich wenig Lust, einem Norweger auf der Schanze zu begegnen.« Zumindest die beim WM-Großschanzenwettbewerb des Betrugs überführten Lindvik und Johann Andre Forfang sind bei der Raw Air nicht dabei, die Fis suspendierte beide am Mittwochnachmittag. Die Sportler beteuern zwar, nichts von dem Anzug-Betrug mit einem eingenähten steifen Band gewusst zu haben. Von den Konkurrenten glaubt ihnen freilich niemand. Das wäre schließlich genauso, als würde ein Formel-1-Fahrer nicht bemerken, dass sein Bolide plötzlich 50 PS mehr hat. Wellinger erklärte dazu: »Wenn es Änderungen am Anzug gibt, dann stehe ich da drinnen, merke, dass der anders ist und frage nach, was geändert wurde.«
In Norwegen wurden als »Bauernopfer« erst mal Chefcoach Magnus Brevig, Ko-Trainer Thomas Lobben und der Material-Verantwortliche Adrian Livelten suspendiert. Einige Indizien deuten jedoch darauf hin, dass es um flächendeckenden Betrug geht. Einem norwegischen Fernsehsender wurde ein Foto zugespielt, dass Lindviks manipulierte Ski-Bindung vor dem Normalschanzen-Wettbewerb zeigen soll, den er vor Wellinger gewann. Für ein ähnliches Vergehen wurde der Norweger Jörgen Graabak schon in der Nordischen Kombination[4] disqualifiziert. Dieser Fall wird wie die Anzug-Manipulation durch die Ethikkommission der Fis untersucht. In einem ersten Schritt wurden alle bei der WM verwendeten Sprunganzüge der Norweger konfisziert.
»Angesichts der uns bisher vorliegenden Informationen haben wir bei der Überprüfung der Sprunganzüge nichts zu befürchten«, meint Norwegens Verbandspräsidentin Tove Moe Dyrhaug. Schließlich hatten die WM-Gastgeber[5] seit Bekanntwerden des Skandals mehr als 48 Stunden Zeit, ihre Spuren zu verwischen. Bei der Fis-Untersuchung dürften also keine neuen Enthüllungen zu erwarten sein, zumal die führenden Herren des Skisports kein Interesse an der weiteren Zerstörung einer ihrer wichtigsten Sportarten haben. Aber erst einmal deutete die Fis ein hartes Vorgehen an: »Wir werden alles daran setzen, Respekt und Fairness zu gewährleisten – in diesem konkreten Fall und in unserem gesamten Ökosystem. Sollten wir zu dem Schluss kommen, dass die Ausrüstungsvorschriften drastisch geändert werden müssen, werden wir dies tun.«
Ob Vorschläge, die Materialkontrollen gänzlich der Technik zu überlassen, etwas ändern? Schließlich wird seit Jahren immer wieder über Material-Betrug getuschelt[6] – und zwar bei allen Topnationen. Bei der WM geriet auch der aus der Formkrise von der Normalschanze plötzlich auf Rang vier geflogene Karl Geiger wegen eines vermeintlich zu großen Sprunganzugs in den Fokus. Der Oberstdorfer hat alle Vorwürfe abgestritten. Weil aber jeder Zentimeter mehr Tragfläche im Flug mehr Weite bringt, spricht auch der ehemalige Weltmeister Martin Schmitt von Tricksereien in der ganzen Szene. Da die Größe des Anzugs bisher meist nur im Schritt gemessen werde, könnten ihn die Sportler allein mit entsprechenden Bewegungen in den regelkonformen Bereich bringen. »Diese Bewegungen werden trainiert«, meint Schmitt.
Dazu kommt, dass der Materialkontrolleur der Fis, der Österreicher Christian Kathol, ganz offenbar Teil des Problems ist. Beim WM-Skandal hatte er nichts zu beanstanden, erst nach dem Springen wurde nach Intervention mehrerer Nationen der Betrug nach dem Auftrennen der Sprunganzüge von Lindvik und Forfang aufgedeckt. Die WM-Gastgeber haben das Skispringen in die wohl größte Krise seiner Geschichte gestürzt.