nd-aktuell.de / 17.03.2025 / Kultur / Seite 1

»Dünne Wände«: Kommst du mit in die Alltagsmoral?

In »Dünne Wände« erzählt Sidik Fofana geniale Geschichten aus dreihundertnochwas Apartments in einem Sozialblock in Harlem, New York

Florian Schmid
Bringt das Leben in Harlem zum Klingen, im Wortsinn: Sidik Fofana
Bringt das Leben in Harlem zum Klingen, im Wortsinn: Sidik Fofana

Eigentlich will der alte Mister Murray nur an seinem angestammten Platz vor der Banneker-Siedlung sitzen und das Treiben auf der 129. Straße beobachten, so wie er das seit Jahrzehnten tut. Aber als ein neues Restaurant eröffnet, wird er wegen Herumlungerns von der Polizei vertrieben. Aber noch schlimmer findet er die Unterstützung zahlreicher Nachbarn, die für sein Recht kämpfen wollen. Er will doch nur seine Ruhe haben und dort sitzen – so wie immer!

Sidik Fofanas Debütband »Dünne Wände« erzählt in acht wundervoll miteinander verknüpften Erzählungen von gut zwei Dutzend Mietern aus einem Wohnhaus in Harlem, das ins Blickfeld von Immobilienverwertern gerät. »Die Banneker-Siedlung an der 129. Ecke Fred Doug ist nicht schön, aber sie ist dein Zuhause. (…) Ein lang gezogener grauer Drecksbau, 25 Stockwerke, dreihundertnochwas Apartments. Vier Fahrstühle, die machen, was sie wollen.« Als das Gebäude verkauft wird, ziehen statt der bisherigen Schwarzen Sozialmieter[1] immer mehr zahlungskräftige weiße Mittelständler in das Haus. Aber »Dünne Wände« ist weit mehr als nur eine erwartbare sozialkritische Erzählung zum Thema Gentrifizierung.

Sidik Fofana erzählt sehr direkt vom Leben der Schwarzen Bewohner, davon, wie sie reden, sich immer wieder durchmogeln, miteinander streiten; darüber, was für eine Alltagsmoral in diesem Sozialblock herrscht, was die Jugendlichen so machen und wie der ökonomische Druck für alle Nachbarn langsam steigt und schließlich existenzbedrohend wird. Ein Teil dieser Geschichten spielt auch in einer nahen High-School, die von Jugendlichen der Banneker-Siedlung besucht wird. Als eine Schulinspektion ansteht, droht Verona Dallas, ebenfalls Mieterin im Banneker-Gebäude, ihren Job als Schul-Sozialarbeiterin zu verlieren. Denn die Schule mit vielen Kids aus sozial prekären Verhältnissen gerät in den Fokus der Schulaufsicht, die Gelder kürzen soll und den Erfolg der Schule daran misst, ob sich die Jugendlichen diszipliniert benehmen, was hier kaum der Fall ist.

Zusammen mit Mister Broderick, einem jungen weißen Lehrer, der in dieser sozial randständigen Schule trotz seines Harvard-Abschlusses arbeitet, versucht Verona Dallas die Teenager, die fortwährend den Unterricht stören und zum Teil nicht einmal richtig lesen können, in den Griff zu bekommen. Das ist eh schon kaum zu leisten und dann will der sozial engagierte Mister Broderick auch noch Shakespeares »Sommernachtstraum« im Unterricht lesen. Bis ein Schüler Kondome durchs Klassenzimmer schmeißt und allgemeines Gejohle ausbricht. Aber als die Schulinspektion auftaucht, reißen sich die Schüler plötzlich zusammen und die Lehrer sind einfach nur baff. Bis dann natürlich doch wieder alles schief geht.

Sidik Fofana arbeitet hauptberuflich als Inklusionspädagoge und Englischlehrer in einer Schule in Brooklyn. Die Szenen aus dem Schulalltag dürften auch deshalb so großartig geschrieben sein. Sein Erzählband, der auch als Roman durchgehen kann, wurde von US-amerikanischen Kritik überaus gelobt. Seine Geschichten gehen einem nah. Wobei seine Figuren keine sozialen Antihelden oder bloße Opfer der Umstände sind. Sie stehen einigen kommunalen Aktivist*innen, die die Interessen der Mieter*innen vertreten, sehr skeptisch gegenüber. Immer wieder gibt es Streit, nicht selten eskaliert die Gewalt.

Egal, ob die junge Kandese mit ihren Freundinnen geklaute Süßigkeiten verkauft oder der junge Swan zusammen mit seinem gerade aus dem Gefängnis entlassenen Kumpel Essen bestellt und den Lieferanten des China-Restaurants um die Rechnung prellt- Fofana schreibt vor allem auch über die Unzulänglichkeiten seiner Figuren, aber ohne sie dabei bloßzustellen. Dadurch vermittelt ein intimer Einblick in das Schwarze Alltagsleben in Harlem[2], wie es ihn so bislang literarisch kaum gab.

Das funktioniert auch deswegen so gut, weil Fofana ganz unmittelbar die Sprache seiner Figuren wiedergibt und damit das Leben in Harlem im wahrsten Sinn des Wortes zum Klingen bringt. Die Geschichte von Najee, einem der wildesten Schüler aus der Klasse von Verona Dallas, der in der U-Bahn den beliebten »Lite Feet«-Tanz aufführt, um ein paar Dollar zu verdienen, wird in Form eines Briefes erzählt, den er selbst geschrieben hat. Er steckt so voller Rechtschreib- und Grammatikfehler, dass es gar nicht so einfach ist, sich auf diese fast 30 Seiten lange Erzählung einzulassen. Aber es lohnt sich. Sidik Fofana entwickelt einen einzigartigen Sound – so als würde wirklich an der 129. Straße in Harlem stehen und diese Geschichten aus nächster Nähe miterleben.

Sidik Fofana: Dünne Wände. A.d. amerik. Engl. v. Jens Friebe, Claasen-Verlag, Berlin, 256 S., geb. 23 €

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1178200.die-erfindung-der-runterklassel-us-sozialpolitik-konstruierte-bedrohung.html?sstr=harlem
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1143800.antirassismus-risse-im-rahmen.html?sstr=kendi